Oper „Ophelia“ in Saarbrücken :
Aus der Opferrolle befreit

Von Lotte Thaler
Lesezeit: 4 Min.
Valda Wilson (erste Ophelia) sieht die Geister der Toten.
Im Sein zwischen Leben und Tod findet die Frau zur Selbstbestimmung und zum Lebensmut: Die Oper „Ophelia“ von Sarah Nemtsov wurde in Saarbrücken uraufgeführt.

Frauen, die ins Wasser gehen, überleben zu lassen ist derzeit eine trendverdächtige Opernpraxis. In Lyon sah Katia Kabanova in der Oper von Leoš Janáček jüngst ihrer eigenen Bergung aus der Wolga zu. Die Komponistin Sarah Nemtsov lässt nun in ihrer dritten abendfüllenden Oper „Ophelia“ am Saarländischen Staatstheater die Titelfigur wiederauferstehen.

Die Regisseurin in Lyon und die Komponistin in Saarbrücken sprechen beide von „Befreiung“ der Protagonistinnen. Das hört sich gut an, mag auch ein Zugeständnis an feministische Vorgaben sein, aber Ophelias Befreiung ist in erster Linie Traumabewältigung. Am Ende wird sie mit Horatio, dem Freund Hamlets, das Krankenhaus verlassen – als Genesene, die wieder zu einer neuen Liebesbeziehung fähig ist (der baritonale Sympathieträger Max Dollinger mit der Samtstimme macht es ihr nicht schwer). „Befreit“ hat sie sich allerdings aus ihrer romantisierenden Rezeption, aus dem Blumengrab, das dem Gemälde von John Everett Millais nachgebildet ist.

Umgeben vom Schattenchor schwarz verhüllter Gestalten

Nemtsov und ihr Librettist Mirko Bonné zäumen Shakespeares Schauspiel von hinten auf, wobei sie die Alternative von Hamlets Frage nach Sein oder Nichtsein in einer dritten Möglichkeitsform aufheben: im Sein zwischen Leben und Tod. Ophelias Krankenhausaufenthalt bildet den Rahmen für die eigentliche Handlung in der Geisterwelt, die sich im Kopf der Patientin abspielt. Hier tauchen sie alle wieder auf: Hamlets Mutter Gertrude mit der superben Koloratursopranistin Liudmila Lokaichuk, ihr Mann Claudius mit dem imperialen Bass von Hiroshi Matsui, Polonius (Markus Jaursch), Laertes (Melissa Zgouridi) und Rosenstern mit dem genießerischen Counter Georg A. Bochow als Gast. Dazu zwei Schauspieler, Alois Neu als stummer Vater Hamlets und Christian Clauß als Hamlet selbst, der sich rezitatorisch glänzend in das Gesangsensemble einfügt.

Umgeben werden die frisch Verstorbenen vom Schattenchor schwarz verhüllter Gestalten, der schon länger in der Unterwelt haust und die Toten des dänischen Hofes zu sich holen will. Gegen Ende werfen sich die barockisierend gewandeten grauen Figuren dann schwarze Umhänge über und werden selbst zu Schatten (Kostüme: Julia Rösler).

Ophelia dagegen findet wieder ins Leben zurück, nachdem sie ihre Geschichte mit Hamlet in einzelnen Stationen nochmals durchlebt hat. Nemtsov spaltet sie dafür in drei Stellvertreterinnen mit verschiedenen Stimmlagen auf (ein tolles Terzett von Bettina Maria Bauer, Pauliina Linnosaari und Judith Braun). Im Moment des Entschlusses zum Leben entschwinden die Ersatz-Ophelias im dramaturgisch, szenisch und musikalisch lange hinausgezögerten Höhepunkt der Oper: Gerade besuchten die drei Ophelias ihre Schwester am Krankenbett, erstickten fast an ihrer Frage nach dem „Sein oder Nichtsein“, wollen sterben, schlafen und sonst nichts. Da bewegt sich die Rekonvaleszentin und explodiert in einem durch Mark und Bein gehenden Urschrei aus der Tiefe des aufgewühlten Orchesters heraus. Jetzt ist Ophelia in der Gegenwart angekommen.

Durch den Wahnsinn zu den Vögeln

Für Valda Wilson in der Titelrolle ist dies auch die Initialzündung für ein neues Singen, das sie wie stammelnd wieder entdeckt, bis sie mit großen Sprüngen in die abenteuerlichsten Höhen gelangt, zu den Vögeln, die sie in Empfang nehmen, oder auch in den Wahnsinn des normalen Lebens – eine darstellerisch wie sängerisch außerordentliche Leistung. Überhaupt schien das Produktionsteam in Saarbrücken geradezu beflügelt von der Uraufführung. Das Staatsorchester unter der Leitung von Stefan Neubert konfrontiert das Publikum mit einer höchst anspruchsvollen Musik. Sie entwickelt sich aus einem dunklen Mahlstrom, der sich langsam differenziert, in hohen Spitzen ausschlägt, sich marschartig in Bewegung setzt oder sich martialisch zusammenballt.

Metallische Gefechte wechseln mit sanften, mikrotonalen Klangbändern, dazu kommen im erweiterten Schlagzeugapparat Windmaschine, Regenstäbe und Peitschen, Akkordeon, E-Gitarre, Synthesizer und ein verfremdetes Cembalo. Nemtsovs Klangehrgeiz schließt noch elektronische Zuspiele mit Geräuschen aus der Menschen- und Naturwelt ein, vor allem von Wasser, sodass manche Zuhörer schon ängstlich gen Himmel blickten. Getoppt wird das Orchestrale noch durch die 3-D-Technik, mit welcher der Schattenchor in den elektronischen Zwischenspielen aufgenommen wurde. Ein dramaturgisches „Tacet“ im zentralen sechsten Interludium sorgt nicht nur für ein Innehalten im Psychostress, sondern weist auch schon auf den Schluss der Oper voraus.

Dem musikalischen Aufwand steht die Inszenierung von Eva-Maria Höckmayr und Fabian Liszt (Bühne und Video) in nichts nach. Fast hat man den Eindruck, die akustische Komplexität müsse durch die visuelle noch überboten werden. Die Bühne teilt sich horizontal in zwei Spielflächen, die völlig abgedunkelte obere für den Schattenchor, die untere für die Krankenhaus-Szenerie. Doch kann auch alles nach unten gefahren werden, dann tun sich riesige Videoaufnahmen auf – die Gesichter der Sänger in Großaufnahme –, oder die Bühne öffnet sich nach hinten, wo wiederum mit Spiegeln und Video gearbeitet wird.

Mit einem elementaren, exotisch anmutenden Tanz brechen Ophelia und Horatio auch stilistisch aus, verbergen sich aber listig hinter Shakespeare: „Der Rest ist Schweigen.“ Nicht ganz – der junge Fortinbras von Benjamin Schmidt stellt sich als neuer König von Dänemark auf der Oberbühne vor. Die Krone trägt er schon. Eine Krönung hatten wir ja erst.