„Henry VIII“ in Brüssel :
Übermöblierter Klangzauber

Von Mark Zitzmann, Brüssel
Lesezeit: 4 Min.
Königliches Duell: Marie-Adeline Henry als Anne Boleyn und Nora Gubisch als Katharina von Aragon
Das Théâtre de la Monnaie in Brüssel verhilft der vergessenen Oper „Henry VIII“ von Camille Saint-Saens zur musikalischen Auferstehung – trotz der Regie von Olivier Py.

Anlässlich des hundertsten Todesjahrs von Camille Saint-Saëns auf den Spielplan der Saison 2020/2021 gesetzt, konnte die Produktion von „Henry VIII“ durch das Brüsseler Théâtre Royal de la Monnaie pandemiebedingt erst jetzt präsentiert werden. Zwei Jahre Verzug sind nichts für ein Werk, das, 1883 an der Pariser Oper uraufgeführt, schon zu Lebzeiten des Komponisten von den Spielplänen verschwand.

England, zur Tudor-Zeit. Zwei Männer lieben dieselbe Frau: König Heinrich VIII., bereits mit Katharina von Aragon verheiratet, und der neue spanische Botschafter, Don Gomez. Letzterer hat von Anne Boleyn in Paris, wo beide zuvor weilten, Liebespfande empfangen – doch Ersterer vermag mehr zu bieten. Die Rolle einer Mätresse verschmäht die Hofdame der Königin, aber als Heinrich ihr die Hochzeit verspricht, gibt sie nach. Während eines (Schau-)Prozesses gegen Katharina verweigert der Legat des Papstes die Annullierung der Ehe, woraufhin sich Heinrich von Rom lossagt – und sogleich exkommuniziert wird.

Im Schlussakt sucht Anne von der verstoßenen, sterbenskranken Ex-Königin die Herausgabe eines Liebesbriefs zu erwirken, den sie einst an Gomez geschickt hatte. Erst empört über die Dreistigkeit ihrer siegreichen Rivalin, rettet Katharina diese schließlich, indem sie das kompromittierende Schriftstück verbrennt – und segnet mit diesem Akt der christlichen Vergebung das Zeitliche.

Übereifrige Regie

Was hat „Henry VIII“ zu bieten? Vom Text her nicht viel: Das Libretto mengt richtungslos amouröse Intrigen, religiöse Konflikte und politische Kämpfe. Immer wieder werden Fährten gelegt, aber nicht verfolgt: Das Thema des „englischen Neros“ (Philipp Melanchthon) etwa, gegen den Volk und Adel murren, aber (noch) nicht aufbegehren; der Konflikt zwischen König und Papst, der sich im dritten Akt zuspitzt, im vierten dann aber völlig unter den Tisch fällt; ganz zu schweigen vom unheilvollen Beil-Motiv, dessentwegen das Werk mit einem frus­trierenden Cliffhanger endet: Das über dreieinhalb Stunden hinweg hochgekitzelte Verlangen nach einem Blaubart der Populärkultur befriedigt die Oper nicht.

Henry VIII von Pierre Léonce Détroyat und Armand Silvestre nach William Shakespeare in Brüssel
Henry VIII von Pierre Léonce Détroyat und Armand Silvestre nach William Shakespeare in BrüsselMathias Baus

Leider macht Olivier Pys Regie die Sache nicht besser. Der Franzose traut weder dem jeweiligen Werk noch dem Publikum, noch seinem eigenen Talent – Letzteres zu Recht. So muss er, erstens, permanent explizieren: Fällt das Wort „Papst“, schreitet sogleich ein Pontifex maximus über die Bühne; ist vom „Buch, das uns vom Himmel kommt“, die Rede, fliegt eine Bibel aus der Höhe; vom ominösen Liebesbrief ganz zu schweigen, der hier ständig irgendwo herumflattert. Zweitens leidet Py an Horror Vacui, wo seine Inszenierungen im Kern doch gerade eines sind: leer. Es gibt kein Vor- oder Zwischenspiel, kein Sologesang oder Ensemblestück, das nicht durch Nebenaktionen möbliert würde. Da wirbeln Tänzer mit Leitern herum, werfen sich Statisten in Pose für Tableaux vivants, fuchteln Protagonisten, die in der betreffenden Szene nichts zu suchen haben, mit dem Revolver herum. Dazu Versatzstücke, die man in fast jeder Py-Inszenierung findet: schwere Drehbauten, die im Hintergrund kreisen, wohlgebaute junge Leute, halb oder ganz nackt, und das obligate Pferd, als Statue wie auch lebend (kräftiger Applaus).

Drittens und endlich muss der Regisseur partout aktualisieren. So erklärte er vorab, Spiel- und Entstehungszeit von „Henry VIII“ mischen zu wollen. Das könnte erhellend sein, führt der Musikhistoriker Thierry Santurenne im Programmheft doch aus, Saint-Saëns und seine Librettisten hätten in ihrem Renaissance-Stück brandaktuelle Fragen der jungen Dritten Republik aufgeworfen – jene nach der Ehescheidung, jene nach der Trennung von kirchlicher und weltlicher Macht. Aber hier bleibt es beim bloßen Mengen von Kostümen beider Epochen und beim ungereimten Auftauchen einer Dampflok. Explizieren, Möblieren und Aktualisieren zeitigen unter dem Strich hauptsächlich quietschende Dauerbetriebsamkeit.

Das ist schade, denn musikalisch vermag „Henry VIII“ zu punkten. Saint-Saëns’ grand opéra ist durchaus modern: durchkomponiert (das heißt ohne Unterteilung in Nummern, die in sich abgeschlossen sind), mit figurengebundenen Themen versehen (um nicht den mit Wagner verbundenen Begriff „Leitmotiv“ zu gebrauchen) und mit einem Orchesterpart ausgestattet, der oft seine Begleitfunktion durchbricht, um zu sinfonischer Eigenständigkeit zu finden. Saint-Saëns ist mehr Zeichner als Maler, mehr Ingres denn Delacroix: Eines gewissen Maßes im Harmonischen wie in der Periodik begibt er sich nie; melodische Lineatur, Transparenz des Satzes und Raffinement der Instrumentierung stellt er über alles. Aber das schließt Überraschungen nicht aus, etwa Katharinas Klage „Je ne te reverrai jamais“, in der 25 (!) Wechsel zwischen nicht weniger als fünf Takt­arten etwas faszinierend Freies und Fließendes erzeugen.

Besonderheiten wie die Begleitung von Katharinas „Car je ne suis qu’une étrangère“ durch Arpeggien der Harfe, gebrochene Dreiklänge der Solobratsche und eine Kantilene des Solocellos oder die bedrohlich tiefen, perfide leisen Bassakkorde zu Heinrichs Ansinnen, das Herz seiner ersten Gattin zu martern, erweckt Alain Altinoglu mit bezwingender Wirkung zum Leben. Den Hauskräften der Monnaie, dem musikalischen Leiter, dem Orchester und dem Chor, gebührt der Löwenanteil des Lobs für diese Wiedererweckung. Altinoglus Dirigat besticht so durch Glut und Schneid ebenso sehr wie durch Klangsinn und Biegsamkeit. Doch auch die soliden Solisten, ohne Ausrutscher nach unten wie Ausreißer nach oben, stellen jene der drei greifbaren CD-Aufnahmen völlig in den Schatten. Hoffentlich wird diese Produktion verewigt – auf Ton-, nicht auf Bildträger!