„Zar Saltan“ in Straßburg :
Entwaffnende Verteidigung der Kunstfreiheit

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Gwidon (Bogdan Volkov, links)
Pro-ukrainischen Protesten zum Trotz setzt die Oper Straßburg „Das Märchen vom Zaren Saltan“ von Nikolaj Rimski-Korsakow in der Inszenierung von Dmitri Tcherniakov aufs Programm und sorgt für Begeisterung.

Nikolaj Rimski-Korsakows „Märchen vom Zaren Saltan“ an der Opéra National du Rhin ist von elsässischen Kindern seit Langem herbeigesehnt worden: Die Klasse CM2 der Schule in Eschbach au Val beschäftigte sich ein Jahr lang unter Anleitung von Tania Kuentz mit dem Werk von Alexander Puschkin und dessen Verwandlung in eine Oper. Entstanden sind dabei herrliche Dioramen mit Knetfiguren, die im Foyer der Straßburger Oper gezeigt werden: Fürst Gwidon und der Zauberschwan; Zarin Militrissa und die böse Base Barbariche (stets sinnt sie auf arge Schliche); die Hummel natürlich, datteldick, schließlich ist „Zar Saltan“ die Hummeloper schlechthin; Tschernomor, der Anführer der Meeresrecken, mit wirrem Haar wie das Spaghettimonster; und nicht zu vergessen: das Eichhörnchen, das Smaragdkerne aus goldenen Nüssen herausknackt, denn „Zar Saltan“ ist auch die Eichhörnchenoper schlechthin.

„Das Märchen vom Zaren Saltan“ ist in Straßburg seit Wochen von Aktivisten der Plattform „PromoUkraïna“ angefeindet worden wie überhaupt das ganze Festival „Arsmondo Slave“ des Opernhauses. In Zeiten des verbrecherischen Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine dürfe man keine panslawistische Kulturideologie verbreiten und auch keine russische Kultur pflegen, da Russland seine Kultur als Waffe gegen die Ukraine einsetze. Straßburgs Intendant Alain Perroux hat besonnen auf diese Polemik reagiert, die Proteste auf die Website seines Hauses gestellt, aber auch seine entschiedene Entgegnung: dass hier keine panslawistische Ideologie gepflegt werde, man im Gegenteil von „slawischen Welten“ rede und auch die Multikonfessionalität der Slawen herausarbeite; dass das gesamte Haus einschließlich aller beteiligten russischen Künstler sich längst solidarisch mit der Ukraine gezeigt und den Krieg verurteilt hätte.

Gilt etwa wieder „Kunst ist Waffe“?

Man muss ergänzen: Wer behauptet, man dürfe russische Kunst nicht pflegen, weil Russland die Kunst zur Waffe gemacht habe, tut genau das – er macht sich mit Putin gemein und die Kunst dabei zur Waffe. Wer aber Kunst zur Waffe macht, verrät die Idee der Kunstfreiheit (Kunst ist Zweck und nicht Mittel) und damit jene „europäischen Werte“, zu deren Verteidigung jetzt so vehement aufgefordert wird. Das Erschreckende der Proteste von „PromoUkraïna“ liegt auch darin, dass sie sich gegen eine Ausstellung der Bibliothek der verbotenen Bücher, die in Straßburg gesammelt wurden, richtet und damit gegen Werke von Autorinnen wie Anna Achmatowa und anderen Opfern stalinistischer Verfolgung. Erleben wir da in der Vermengung von Krieg und Kunst ein neues 1914? Oder eine Reaktivierung der Parole „Kunst ist Waffe“ von Friedrich Wolf, mit der man in der DDR das Volk indoktrinierte?

Dass Perroux unter diesem politischen Druck am Programm von „Arsmondo slave“ und an der lang geplanten Übernahme des „Zaren Saltan“, einer Inszenierung des russischen Regisseurs Dmitri Tcherniakov, die im Juni 2019 in Brüssel Premiere hatte, festhielt, ist ein Plädoyer für die Kunstfreiheit und für den Diskurs anstelle von intellektuellem Krieg.

Tcherniakovs meisterhafte Inszenierung geht vom kindlichen Trauma der zerstörten Familie, des abwesenden Vaters aus. „Zu jener Zeit war Krieg“, heißt es bei Puschkin. Die alleinerziehende Mutter Militrissa schreibt diesen Satz an die Wand. Was er bedeutet, wird nicht bebildert. Wir sehen nur die Folgen: Ihr Sohn Gwidon ist sprachgestört und soziopathisch. Die Wirklichkeit ist für ihn und seine Mutter derart zur Zumutung geworden, dass beide sie nur in Form eines Märchens bewältigen können. Sie müssen, was ihnen mit der Verstoßung durch den Vater angetan wurde, verfremden, um es begreifen zu können. Distanzierung, Entrückung als psychotherapeutisches Mittel der Erkenntnis wird damit verteidigt gegen ein Regietheater der bloßen Aktualisierung.

Tcherniakovs bespielbare Animation

Tcherniakov hat eine Art Höhle als Bühne hinter dem Vorraum unserer heutigen Prosa entworfen. Diese Höhle liegt hinter einem Vorhang, auf den hinreißend animierte Bleistift-, Kohle- und Pastellzeichnungen von Gleb Filshtinsky mit der Märchenhandlung projiziert werden. Zugleich kann diese Projektion in der Höhle von singenden Echtmenschen bespielt werden. Zar, Bojaren und Barbariche sitzen in drolligen Schaumstoff-Kostümen von Elena Zaytseva, mit Folk­lore-Mustern in Kritzeloptik im projizierten Kunst-Welt-Raum, in den hinein auch der gestörte Gwidon immer wieder flieht: von Lust geschüttelt bis zum Verlust der Körperbeherrschung. Und so ist alles da: Schwan, Hummel, Eichhörnchen, Meeresrecken – begriffen als Notwendigkeit, um mit der Überforderung durch die Wirklichkeit klarzukommen.

Das Orchestre philharmonique de Strasbourg unter der Leitung von Aziz Shokhakimov geht Rimski-Korsakows Musik recht direkt, fast schroff an. Dass der Komponist ein Zauberer der Harmonik war, hört man; dass seine Orchestration voller Finessen ist, verschwindet hinter Sprödigkeit. Tatiana Pavlovskaya*  singt die Militrissa nicht allein mit dem jugendlichen Liebreiz einer Frau, die den Zaren Saltan für sich einnimmt, sondern mit dem Ton alltagsbewährter Mütterlichkeit, die manchen Schmerz zu verkraften lernte. Ante Jerkunica gibt den Zaren Saltan nachdenklich, unsicher geworden angesichts eigener Charakterschwäche. Julia Muzychenko als Schwanenprinzessin darf man durchaus angstlösende Qualitäten ihres Soprans zusprechen.

Bodgan Volkov als Gwidon ist stimmlich ein Heldentenor, darstellerisch als verhaltensgestörter junger Mann ein Ereignis. Er zwingt durch sein Spiel die Zuschauer in die Rahmenhandlung absolut überzeugend hinein. Zum langen Schlussapplaus legt der ukrainische Tenor seinen Arm um den russischen Regisseur und drückt ihn fest an sich.

*In einer früheren Version hatte es geheißen, Svetlana Aksenova habe die Partie der Militrissa gesungen. Sie war aber am Premierenabend durch Tatyana Pavlovskaya ersetzt worden.