Brittens „Billy Budd“ in Gelsenkirchen begeistert aufgenommen

Joachim Gabriel Maaß, Tobias Glagau, Dominik Köninger, Chor/ Billy Budd / Theater im Revier/ Fotos © Karl und Monika Forster

Billy Budd ist ein enorm vielschichtiges Musikdrama. Benjamin Britten hat mit großen Chorpartien, einem die Natur der See beschreibenden Orchester und charismatischen Protagonisten ein Meisterwerk geschaffen, das nur große Häuser angemessen besetzen können. Die Oper Gelsenkirchen glänzt mit einer überzeugenden Ensembleleistung. (Ursula Hartlapp-Lindemeyer Berichtet von der Premiere am 25. März 2023)

Herman Melville hat 1891 ein Novellenfragment hinterlassen, das die britische Marine im Jahr 1797, zur Zeit der Kriege gegen Napoleon, als Hintergrund hat. Billy Budd wird in dieser Novelle als Verkörperung des Mythos des „schönen Matrosen“ beschrieben, ein junges Findelkind mit der Natürlichkeit und Unschuld eines edlen Wilden, vergleichbar mit Apollo und Achilles in der griechischen Mythologie, der am Ende wie eine Christusfigur verklärt wird. Er ist Analphabet und Stotterer, was ihm zum Verhängnis wird. Norman Foster und Eric Crozier schrieben das Libretto für Benjamin Britten.

Die 1951 uraufgeführte Auftragskomposition der Royal Opera Covent Garden, London, ist ein beeindruckendes Bekenntnis des Komponisten Benjamin Britten zu Pazifismus und Menschenrechten und wirft die Frage auf, was Gesetze taugen, die zur Exekution einer Lichtgestalt wie Billy Budd führen, der schuldlos schuldig geworden ist. Am Ende steht die Erkenntnis, dass die Briten 1797 vielleicht doch nicht auf der richtigen Seite der Menschenrechte gestanden haben.

Eingebettet in eine Rahmenhandlung – der alte Kapitän Edward Fairfax Vere verarbeitet seine Schuldgefühle, weil er glaubt, er hätte Billy Budd retten können – findet man sich im Jahr 1797 auf einem britischen Kriegsschiff. Die Offiziere tauschen sich aus über ihr Feindbild, die Franzosen, die gerade ihren König hingerichtet haben, und fürchten nichts mehr als eine Meuterei.

Mitte stehend: Oleh Lebedyev, Adam Temple-Smith, Tobias Glagau/ Billy Budd/ Theater im Revier/ Foto © Karl und Monika Forster

Die Gefahr ist real, denn neue Besatzungsmitglieder werden zwangsrekrutiert (gepresst) und haben keine Wahl, als sich den hierarchischen Strukturen zu unterwerfen. Mit strengen Züchtigungen als Druckmittel fordert der Schiffsprofos und Waffenmeister John Claggart bedingungslose Disziplin ein. Drei neue Besatzungsmitglieder sind gerade gepresst worden: der Weber Arthur Jones und der Metzger Red Whiskers hadern mit ihrem Schicksal, nur der junge Matrose Billy Budd ist mit seinem Los, statt auf der Rights of Man („Menschenrechte“), jetzt auf einem Kriegsschiff zu segeln, zufrieden. Er erobert die Herzen seiner Mannschaft und seiner Vorgesetzten im Sturm, weil er in allem nur das Gute sieht.

Die Mannschaft auf dem engen Schiff, den Gewalten des weiten Meeres ausgeliefert, ohne Privatsphäre, eine reine Männergesellschaft, monatelang zusammengepfercht, steht unter enormem Druck, der sich in ausgelassenen Trinkgelagen und derben Anspielungen entlädt. Regisseur Michael Schulz vermeidet es, zu direkt auf mögliche homoerotische Bezüge hinzuweisen. Auch auf Knabenstimmen, die in der Partitur eingesetzt werden, verzichtet man, obwohl 1797 schon 13-jährige zum Dienst in der Flotte verpflichtet wurden.

Mit gewaltigen Chorszenen und farbigen Orchesterklängen beschreibt Britten die Abhängigkeit der Seeleute von Wind und Wetter. In der drangvollen Enge des Schiffs baut sich eine unerträgliche Spannung auf, die sich beim Kampf gegen die revolutionären Franzosen entladen soll, aber es kommt nicht dazu. Die laut knallende Kanonenkugel fällt ins Leere, der Nebel verhindert den Kampf und trübt den Blick.

Der Waffenmeister John Claggart verkörpert das Böse in der Oper. Er will Billy Budd vernichten, weil er dessen charakterliche und äußere Schönheit nicht erträgt. Ein Blick in die literarische Vorlage offenbart: er hat Billy Budd sexuell belästigt, und Budd hat ihn abgewiesen. Das ist seine Rache für diese Kränkung. Claggart stiftet zwei Seeleute an, Billy Budd zu kompromittieren. Kapitän Vere hört Claggarts Vorwürfe an und stellt ihn Billy Budd gegenüber. Der ist so schockiert, dass es ihm die Sprache verschlägt. Er kann sich nur mit einem Faustschlag gegen den Verleumder wehren, der zu Boden geht und stirbt. Vere beruft ein Kriegsgericht ein, bei dem er als Zeuge aussagt. Nach geltendem Kriegsrecht muss Billy unverzüglich hingerichtet werden, weil er einen Offizier getötet hat. Alles ist formal korrekt, und Vere hat keine Chance, Budd zu retten.

Chor/ Billy Budd/ Theater im Revier/ Foto © Karl und Monika Forster

Der Abgesang des zum Tode verurteilten Billy Budd, der Vere verzeiht, rührt zu Tränen. Nach der Hinrichtung versucht die Mannschaft eine Meuterei, kann aber von den Offizieren mit knapper Not unter Kontrolle gebracht werden. Eine grandiose Chorszene!

Die drei Protagonisten haben Avatare, eine Erfindung des Regisseurs, nur für sie selbst und das Publikum sichtbar: Doom („Schicksal“), ein junger Tänzer mit lichtblauem weitem Rock und nacktem Oberkörper, der Billy Budd zugeordnet ist, Shrift („Beichte“), ein junger Kapitän aus der Zeit der französischen Revolution, dem Vere seine Erinnerungen eintätowiert, und Arawn, ein Pestdoktor, benannt nach einem düsteren Herscher der walisischen Mythologie, der Claggart begleitet. Die Rahmenhandlung gibt Aufschluss über eine weitere Handlungsebene, denn es ist eine Liebeserklärung des Kapitäns Vere an seinen charismatischen Matrosen, den er vor den Folgen von Claggarts Intrige nicht retten kann. Musikalisch drückt sich eine große Zuneigung Budds zu Vere aus. In dem Gespräch kurz vor der Katstrophe, in dem Budd die Vermutung äußert, er werde befördert, zeigt sich ein inniges Vertrauensverhältnis des bevorzugten Matrosen zu seinem Förderer.

Ensemble, Chor, Statisterie/ Billy Budd/ Theater im Revier/ Foto © Karl und Monika Forster

Bühnenbildner Dirk Becker nutzt die Unterbühne und bringt dort die Mannschaftsquartiere und die Kabine des Kapitäns unter. Dort hängt demonstrativ ein Kruzifix an der Wand. Becker verzichtet darauf, die Enge eines historischen Kriegsschiffs zu begrenzen. Die Takelage wird durch vier hohe von Statisten verschiebbare Leitern auf der Oberbühne angedeutet, mit denen zur Schlacht ein großes patriotisches Tableau mit britischen Flaggen auf dem Deck geschaffen wird.

Im Hintergrund sieht man ein übergroßes Bullauge und eine feine weiße Linie, die den Horizont andeutet. In anderen Inszenierungen gibt es deutlich mehr Lichteffekte, zumal Billy Budd als Lichtgestalt gesehen wird und auch das Mondlicht besingt. Es gibt lichttechnisch überhaupt keine Tageszeiten, alles ist immer sehr dunkel.

Die Kostüme von Renée Listerdahl sind zeitlos maritim und kennzeichnen genau die soziale Stellung der Offiziere und der Mannschaften in einem überzeitlichen Rahmen.

Martin Homrich/ Billy Budd/ Theater im Revier/ Foto © Karl und Monika Forster

Die Rolle des Edward Fairfax Vere hat Benjamin Britten seinem Lebensgefährten, dem Tenor Peter Pears, auf den Leib geschrieben. Martin Homrich verleiht dem alten Junggesellen, der mit zarten Tönen über die Liebe seines Lebens, Billy Budd, berichtet, beeindruckende Statur. Vere ist ein feinsinniger Ästhet und ein fairer beliebter Vorgesetzter, der große Autorität ausstrahlt. Homrichs höhensicherer Lyrisch-dramatischer Tenor – sein Repertoire reicht von Belmonte bis Lohengrin und Tannhäuser – gestattet ihm, die ganze Bandbreite der Gefühle, die er für den jungen Matrosen Billy Budd empfunden hat, aber auch seine unangefochtene Autorität als Kapitän adäquat auszudrücken. Als resignierter alter Mann verarbeitet er immer noch die Schuldgefühle, die er empfindet, weil er den charismatischen Untergebenen nicht vor den Folgen der Intrige Claggarts retten konnte. Sein Avatar trägt die Erinnerung an dieses Versagen in die Haut tätowiert, ein starkes Bild!

Der junge Bariton Dominik Köninger ist ein idealer Billy Budd. Seine kraftvoll-jugendliche Erscheinung, sein Charisma, seine Bühnenpräsenz, sein berückend schöner Bariton, da stimmt alles. Wie er die Behinderung durch das Stottern, die er auch in der Körpersprache darstellt, ausdrückt, die Naivität, die große Seele, die Ergebenheit gegenüber Vere, das ist eine sängerisch und darstellerisch absolut überzeugende Leistung. Sein Avatar macht mit leichtem Tanz die Faszination dieser Lichtgestalt noch deutlicher.

Michael Tews, Dirk Turon/ Billy Budd/ Theater im Revier/ Foto © Karl und Monika Forster

Michael Tews ist mit seinem tiefschwarzen Bass ein furchterregender John Claggart. Sein Repertoire geht von Mozarts Figaro über Verdis Großinquisitor bis zum Ochs. Er ist das tiefschwarze Gegenbild zur Lichtgestalt Billy Budd und übt stimmgewaltig die Kontrolle über die Mannschaft aus. Der Verschwörerton liegt ihm, man bekommt Gänsehaut, wenn er seine Intrigen spinnt. Seine Anklage, Billy Budd habe sich der Verbreitung der Menschenrechte schuldig gemacht („I accuse you …“ ), französisches Geld unter seine Kameraden verteilt und sein Land und seinen König verraten, geht unter die Haut. Budd kann unter dieser Anklage nur unartikuliert schreien und streckt Claggart mit einem Faustschlag nieder.

Auch die weiteren 13 Solopartien sind aus dem Ensemble, aus dem Opernstudio NRW und aus dem Jungen Ensemble am Musiktheater im Revier hochkarätig besetzt. Der durch einen Projektchor verstärkte Herrenchor des MiR in der Einstudierung von Alexander Eberle bringt große dramatische Steigerungen, vor allem in der Schlachtszene, auf die Bühne. Abweichend vom Original hat man auf Knabenstimmen verzichtet, die zusätzliche Schärfen eingebracht hätten.

Die Neue Philharmonie Westfalen holt unter der Leitung von Rasmus Baumann alles aus der Partitur heraus. Man hört das Meer!

Am Schluss schreibt Veres Avatar mit weißer Farbe „The dignity of a human being is inviolable“ („Die Würde des Menschen ist unantastbar“) an die Wand, ein klares Bekenntnis zu den Idealen der französischen Revolution, aus denen sich die Menschenrechte entwickelt haben. Es bleibt der Eindruck einer fordernden Oper mit anspruchsvollen Inhalten und expressiver Musik, die zum Nachdenken und zur Diskussion anregt.

Mehr zu Billy Budd auf der Musiktheater im Revier Webseite.

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Musiktheater im Revier / Stückeseite
  • Titelfoto: Ensemble, Chor, Statisterie / Billy Budd / Musiktheater im Revier / Foto © Karl und Monika Forster

Veröffentlicht durch Stefan Romero Grieser in Vertretung für Detlef Obens.

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