Vasily Barkhatov inszeniert Giordanos „Sibirien“ mit tollen Videoeffekten in der Oper Bonn

Oper Bonn/SIBIRIEN/George Oniani, Yannick-Muriel Noah, Ensemble/Foto © Thilo Beu

Sibirien (Siberia) ist ein Schicksals – und Läuterungsdrama im Stil des Verismo. Der junge russische Regisseur Vasili Barkhatov ergänzt mit großartigen Videosequenzen die Rahmenhandlung einer Frau, die ihren Wurzeln in den Weiten Sibiriens nachspürt. Der Opernchor, der Extrachor, das Beethovenorchester und das wundervolle Ensemble wurden vom Premierenpublikum stürmisch gefeiert. (Gesehene Vorstellung: Premiere am 12. März 2023)

 

Die „Giovane scuola italiana“ war eine Vereinigung italienischer Komponisten des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts mit dem Ziel, die Operndramatik Verdis, der 1901 verstorben war und dessen Werke die Spielpläne dominierten und heute noch dominieren, durch eine neue Operndramatik abzulösen, den Verismo. Giordano hat sich sehr intensiv in die russische Musik eingearbeitet und verwendet unter anderem als Leitmelodie das Wolgaschlepperlied, das von Schaljapin auch in Europa populär gemacht wurde. Es ist in seiner Schwermütigkeit ein Sinnbild für die endlosen Weiten Sibiriens und die fürchterliche Plackerei, der die Menschen am Anfang des 20. Jahrhunderts nicht nur als inhaftierte Zwangsarbeiter im Bergbau ausgesetzt waren.

Als 1903 Puccini wegen eines schweren Autounfalls seine „Madama Butterfly“ nicht zum Beginn der Saison fertigstellen konnte, setzte Giulio Gatti Casazza, Generaldirektor der Mailänder Scala, Giordanos „Siberia“ als Eröffnungspremiere an und ließ später Puccinis „Butterfly“ mit denselben Sängern als Protagonisten folgen. 1903 hatte „Siberia“ viel Erfolg, während „Madama Butterfly“ eher kühl aufgenommen wurde, vermutlich, weil die Tonsprache Giordanos erheblich konventioneller ist als die Puccinis.

Die realistische Umsetzung des Librettos von Luigi Illica mit der Musik von Umberto Giordano wurde als Kooperation bei den Bregenzer Festspielen bereits im Sommer 2022 gezeigt und kam in der Oper Bonn sehr gut an. Fast alle Rollen wurden aus dem Bonner Ensemble besetzt. Regisseur Vasily Barkhatov, der für den souveränen Einsatz von Videoelementen bekannt ist, hat den Dreiakter durch eine Rahmenhandlung ergänzt, die 1992 in Rom als stummes schwarz-weiß-Video beginnt. Christian Borchers hat die Filme an Originalschauplätzen gedreht. Eine ältere Frau, la fanciulla (die Tochter), reist mit der Asche ihres Bruders nach Russland, zunächst nach Sankt Petersburg, wo sie die Wohnung aufsucht, in der Stephanas Karriere als Kurtisane von Gleby, ihrem Sugar-Daddy und Zuhälter, überwacht wird. Die Dame tritt in die Handlung als Beobachterin des ersten Akts „Die Frau“ ein und erlebt, wie Stephana von Gleby genötigt wird, sich als Kurtisane aufzutakeln. Auch den Eklat zwischen ihrem Geliebten Vassili, und dem Fürsten Alexis, mit dem Gleby Stephana verkuppeln will, und dem Vassili die Verurteilung zu Zwangsarbeit in Sibirien einbrockt, beobachtet sie.

Oper Bonn/SIBIRIEN/Ensemble/ Foto © Thilo Beu

Das Bühnenbild von Christian Schmidt ist sehr variabel gestaltet und kann mit verschiebbaren Wänden und Lichteffekten (Alexander Sivaev und Christian Borchers) von der kargen sozialistischen Wohnung zum feudalen Stadtpalais und mit zusätzlichen Schiebeelementen zum Stadtarchiv verwandelt werden. Im dritten Akt ist es die Sträflingsunterkunft, in der Männer, Frauen und Kinder leben. Der Hintergrund zeigt Landschaften als Videoprojektionen und Stimmungen, zum Beispiel, wie Sträflinge schwere Loren mit Erz ziehen.

Der zweite Akt: „Die Liebhaberin“ zeigt zunächst zum Vorspiel die lange Reise der alten Frau in der transsibirischen Eisenbahn von Sankt Petersburg nach Sibirien. Dort spricht sie in einem Archiv vor, wo ihr Stephana und Vassili erscheinen. Stephana hat ihr Luxusleben als Prostituierte aufgegeben und ist Vassili gefolgt. Sie will mit ihm im Straflager leben und sein Kind, das sie unter dem Herzen trägt, dort aufziehen.

Der dritte Akt „Die Heroine“ wird von einem etwa fünfjährigen Kind, Stephanas Tochter, beobachtet. Es ist die Dame, la fanciulla, aus der Rahmenhandlung. Gleby kommt als Sträfling in das Lager, in dem Vassili und Stephana mit ihren Kindern leben. Gleby möchte Stephana aus dem Lager mitnehmen, diese weigert sich aber und möchte bei Vassili bleiben. Gleby offenbart allen, dass Stephana eine ehemalige Prostituierte ist, sie überschüttet ihn daraufhin mit Vorwürfen, er habe sie entehrt und zu Prostitution genötigt. Das ganze Geld habe der Ausbeuter selbst eingesteckt. Vassili rast zunächst vor Zorn, besinnt sich dann aber – Gleby kann ihn von Stephana nicht trennen! Er und Stephana wollen in der Osternacht den von Gleby beschriebenen Fluchtweg zur Flucht mit ihren Kindern nutzen, sie werden jedoch von Gleby verraten, und Stephana wird auf der Flucht erschossen, ein typisches gewaltsames Ende, ganz lakonisch. Vor dem als Video eingespielten Hintergrund sozialistischer Plattenbauten sinkt die Dame mit der Asche ihres Bruders auf die Leichen ihrer Eltern Stephana und Vasili.

Optisch zeigen die Videoprojektionen ein Bild Sibiriens, wie man es sich in Westeuropa vorstellt. Musikalisch liefern Zitate russischer Folklore wie der Wolgaschlepperchor, der Zarenmarsch und Zitate der russisch-orthodoxen Osterliturgie sowie 5/4 Takt und Balalaika-Klänge russisches Lokalkolorit, in dem die reine Liebe Stephanas und Vassilis erblüht. Die wunderbaren Kantilenen der Liebesduette werden jedoch immer wieder von den schwermütigen Klängen des Wolgaschlepper-Chors, der den Alltag als endlose Mühe und Plackerei beschreibt, eingefangen und überlagert. So stellt man sich Sibirien vor: unendlich harte Zwangsarbeit in einem menschenverachtenden System.

Oper Bonn/SIBIRIEN/Giorgos Kanaris, Yannick-Muriel Noah, Statisterie/Foto © Thilo Beu

Yannick Muriel Noah als Stephana entwickelt sich von der ungehorsamen Teenagerin zur emanzipierten Frau und Handlungsträgerin. Sie setzt ihre Liebe zu Vassili gegen alle Versuchungen durch und schleudert dem Zuhälter Gleby ihre ganze Verachtung entgegen. Sie wirft ihm nicht nur vor, sie zur Prostitution genötigt zu haben, sondern auch, das ganze Geld, das er mit ihr verdient hat, nur für sich verwendet zu haben. Ihr lyrisch-dramatischer Sopran ist kristallklar, übertönt jedes Orchester und erblüht in den schönsten Lyrismen. Im Gegensatz zu Verdis Violetta, die sich von Alfredo und von Vater Germont manipulieren lässt, und die letzten Endes an ihrer Schwindsucht stirbt, ist Stephana eine junge Frau, die ihr Leben selbst in die Hand nimmt, indem sie Vassili heimlich trifft und die ihre abgesicherte soziale Stellung als Kurtisane aufgibt, um ihrem Geliebten in die Verbannung zu folgen, wo sie schließlich auf der Flucht mit Vassili erschossen wird. Welcher Gegensatz!

Im Verismo, wie auch im Naturalismus, werden die Dinge beim Namen genannt, die Stücke handeln statt von Kurtisanen in der feinen Gesellschaft von einfachen Menschen und von einem sehr skrupellosen Zuhälter in einem Land, das von endloser Plackerei und schwerster Knochenarbeit geprägt ist.

George Oniani als Vassili ist ein eher schlichter Charakter, leicht aufbrausend, der aufgrund seiner ehrlichen Liebe zu Stephana nach kurzem Zögern kein Problem mit ihrer Vergangenheit hat. Seine Liebe zu ihr ist so echt wie seine bombensicheren Spitzentöne.

Giorgos Kanaris als Gleby ist Stephanas erster Liebhaber, der ihre Schönheit als Zuhälter ausbeutet. Charmant und verbindlich kaschiert er Stephanas Abwesenheit und verkuppelt sie mit Prinz Alexis zum Preis eines Diamantarmbands. Im ersten und im dritten Akt hat er seine Auftritte, bei denen er so richtig fies und gemein rüberkommt. Kein Sympathieträger! Er reist aus Geldgier bis ins Straflager, um seine Stephana wieder zur Prostitution zu überreden. Regisseur Vasily Barkhatov findet dafür ein tolles Bild: Gleby reißt ihr die Alltagskleider vom Leib und steckt sie in ein freizügiges schwarzes Abendkleid, und das sowohl im ersten als auch im dritten Akt. Gleby ist in seiner Körpersprache so direkt, dass man am liebsten wegschauen würde, wenn er in einem anzüglichen Couplet erzählt, wie er sie zur Prostitution genötigt hat. Kavaliersbariton Kanaris entwickelt sich immer mehr zum Heldenbariton, dem die charmanten Schurken auf den Leib geschrieben scheinen.

Oper Bonn/SIBIRIEN/Clarry Bartha, Giorgos Kanaris/Foto © Thilo Beu

Clarry Bartha  la fanciulla, Stephanas Tochter, einzige Gastsängerin, hat diese Rolle schon in Bregenz gespielt. Sie übernimmt einige Takte einer anderen Rolle und auch von Stephana. Sie ist fast die ganze Zeit als Beobachterin auf der Bühne und spielt die Hauptrolle in den Videosequenzen, die zu den Vorspielen der Akte eingespielt werden.

In weitern Rollen agierten Santiago Sanchez als Alexis, Michael Krinner als Il banchiere und Invalido, Johannes Mertes als Hausmeister und Il Cosaco und Juhwan Cho als Hauptmann und Als Aufseher.

Marco Medved hat mit dem Opernchor und dem Extrachor der Bonner Oper die wundervollen, russisches Lokalkolorit vermittelnden Chöre, vor allem die Osterliturgie und den Wolgaschlepperchor im Piano und pianissimo perfekt einstudiert. Daniel Johannes Mayr leitete ein bestens aufgestelltes Beethoven-Orchester, das viel zu tun hat, russischen Wohlklang zu erzeugen, unter anderem mit einem Balalaikaquartett. Thema ist Sibirien!

Oper Bonn/SIBIRIEN/Ensemble/ Foto© Thilo Beu

Man erlebt ein süffiges Melodram mit einer wunderbaren Titelheldin, die es aufgrund ihrer wahren Liebe zum einfachen Sträfling Vassili schafft, auf den gehobenen Lebensstil einer Kurtisane zu verzichten und sich aus der Prostitution zu befreien. Gleby, ihr Zuhälter, wird dagegen als skrupellos und berechnend gezeigt. Im Mittelpunkt steht das weite Land Sibirien mit russischer Folklore, in dem die Liebe kurz aufblüht, sich dann aber das Elend wieder über die Menschen legt. Wie im Verismo häufig gibt es keinen richtigen dramatischen Konflikt. Die Tableaus folgen chronologisch aufeinander: Die Frau, die Liebhaberin und die Heroine.  Aber die von Regisseur Vasily Barkhatov ergänzte Rahmenhandlung der Tochter, die nach ihren Wurzeln forscht, erzeugt einen Spannungsbogen dadurch, dass die suchende Frau immer mehr Details aus dem Leben ihrer Eltern erfährt. Dadurch wird einerseits eine Anknüpfung an die Gegenwart geschaffen, und man versteht auch, warum manche Szenen etwas exaltiert wirken. La fanciulla verklärt das Verhältnis ihrer Eltern als wahre Liebe, die durch ein grausames Schicksal beendet wird.

Ein musikalisch opulenter, spannender Opernabend mit einschmeichelnden Melodien und eine impressionistische Collage über Russland und Sibirien zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Das Premierenpublikum feierte die großartige Ensembleleistung und die innovative Regie mit den klug eingesetzten Videoprojektionen mit lebhaftem Applaus.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Oper Bonn / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Bonn/SIBIRIEN/Yannick-Muriel Noah (Stephana), George Oniani (Vassili), Clarry Bartha (La fanciulla)/Foto © Thilo Beu

 

 

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