„Lucrezia Borgia“ im Aalto-Theater Essen: Belcanto zwischen düsteren Mauern

Aalto Theater Essen/LUCREZIA BORGIA/Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia)
Foto: Bettina Stöß

Diese Premiere stand zunächst unter keinem guten Stern. Denn wenige Tage zuvor musste die ursprünglich für die Hauptpartie der Lucrezia Borgia vorgesehene Sopranistin Jessica Muirhead krankheitsbedingt absagen. Und zudem folgten ihr noch weitere drei Ensemblemitglieder dieser Essener Neuproduktion, ebenfalls aus gesundheitlichen Gründen. Daher zuallererst ein Lob an die neue Intendantin der Aalto-Oper, Frau Dr. Merle Fahrholz und ihr Team, für die logistische Meisterleistung, in nur wenigen Tagen für alle erkrankten Solisten adäquaten sängerischen Ersatz gefunden zu haben. Glücklicherweise kannten sich Marta Torbidoni, die als Lucrezia Borgia eingesprungen war, und der Tenor Francesco Castoro, der wie vorgesehen den Gennaro sang, aus einer im Mai stattgefundenen gemeinsamen Borgia-Produktion am Teatro Communale in Bologna. So war das szenische Zusammenspiel dieser beiden wichtigen Protagonisten in dieser Operninszenierung auch in kürzester Probenzeit durchaus harmonisch und ergänzend. Vor Beginn der Premiere informierte die Intendantin das Publikum im bestens besuchten Essener Opernhaus von den erforderlichen Umbesetzungen. Mit Applaus dankten die Premierenbesucher den kurzfristig eingesprungenen Solisten und die Vorstellung konnte beginnen. Und trotz allen Schwierigkeiten im Vorfeld der Premiere erlebten die Opernfans einen begeisternden Belcanto-Abend von Donizettis Meisterwerk LUCREZIA BORGIA. Großer Applaus und viele Bravos nach den letzten Tönen der Oper waren verdienter Lohn für das gesamte musikalische  Ensemble dieser Essener Premiere. (Premierenbericht vom 26.11.2022)

 

 

Die am 26. Dezember 1833 in der Mailänder Scala uraufgeführte Oper gehört zweifelsohne zu Gaetano Donizettis großartigsten Werken. Der Komponist hatte sich zuvor schon mit der Oper ANNA BOLENA (UA 1830) ein musikalisches Denkmal erschaffen und es dann mit LUCREZIA BORGIA und mit seiner LUCIA DI LAMMERMOOR (UA 1835) für immer in die Musikgeschichte einzementiert. Opernstoffe, die tragische Frauenfiguren in den Mittelpunkt der Handlung stellen, waren bei Donizetti keine Seltenheit. In gerade diesen Werken offenbart sich Donizettis Meisterschaft der musikalischen Zeichnung seiner Protagonistinnen, aber auch seine Anforderungen an den Gesang und des Ausdrucks dessen, so dass es (nicht nur) für frühere Primadonnen stets eine Herausforderung war und ist, diese Opernfiguren auf den Bühnen der Welt darstellen zu können. Hinzu kommt das scheinbar nie ausgehende Füllhorn an Melodien, die Donizetti seinen Opern schenkte und die ebenfalls dankbaren Partien in den jeweiligen Opern neben der Hauptpartie. Donizetti, der zwischen 65 und 70 Opern geschrieben haben soll, hatte aber neben seinem Faible für die tragische Oper auch durchaus Sinn für heitere Stoffe. Wir denken hier an seinen LIEBESTRANK (L’elisir d’amore) oder auch an DON PASQUALE. Gaetano Donizetti gehört mit seinem Schaffen zu den herausragendsten Belcanto-Komponisten und seine Opern sind nach wie vor Dauerbrenner auf allen Bühnen.

Aalto Theater Essen/LUCREZIA BORGIA/Davide Giangregorio (Don Alfonso), Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia), Opernchor
Foto: Bettina Stöß

Donizettis LUCREZIA BORGIA (MelodrammaEin Prolog und zwei Akte), übrigens seine vierzigste Oper,  behandelt in recht freier Form (Libretto von Felice Romani) den Roman Lucrèce Borgia von Victor Hugo. Im Mittelpunkt dieser Schauergeschichte steht Lucrezia Borgia, die Ehefrau von Don Alfonso, dem Herzog von Ferrara, die allseits mehr gefürchtet als respektiert wird und der mehrfacher Giftmord an Männern der Gesellschaft als auch an ihren vorangegangenen Ehemännern vorgeworfen wird. Es wird die Geschichte erzählt, wie Lucrezia eines Tages den schlafenden Gennaro in Venedig entdeckt und von dem jungen Mann entzückt ist. Als er erwacht, erzählt er ihr seine Geschichte. Dass er seine Mutter sehr liebt, aber sie nie kennenlernen durfte. Alles was ihm von ihr blieb sei ein Brief, den sie ihm vor Jahren schrieb und in dem sie ihn bittet, nie nach ihr zu suchen. Lucrezia erkennt alsbald, dass sie die Briefeschreiberin und somit die Mutter des jungen Gennaro ist. Das Drama nimmt seinen Lauf. Am Ende wird aber auch Gennaro, – ungewollt -, ein Giftopfer der Borgia, ein Opfer der eigenen Mutter. Diese versucht zwar noch mit einem Gegenmittel ihren Sohn zu retten, doch er nimmt es nicht an und stirbt in ihren Armen. In der Oper bleibt Lucrezia erschüttert zurück und sinkt am Ende leblos zu Boden. Ein Opernende, wie es Belcantofans einfach lieben – hat sich doch Donizetti gerade für die Schlussszenen seiner tragischen Opern ganz besondere musikalische Momente erschaffen. So auch natürlich in LUCREZIA BORGIA: Die finale und hochemotionale Szene der Titelpartie „Era desso il figlio mio“ gehört absolut dazu. Bedeutende Sängerinnen früherer Zeit der Lucrezia waren u.a. Montserrat Caballé und Dame Joan Sutherland, sowie später dann auch Edita Gruberova. Alle drei setzten gesanglich-virtuose Glanzpunkte mit ihren jeweiligen Interpretationen.

Die Essener Inszenierung des Regisseurs Ben Baur (der auch für das Bühnenbild zuständig war, die klassisch-passenden Kostüme waren von Uta Meenen) lebt von ihren kleinen und berührenden Gesten und dem intensiven und komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen Mutter-Sohn-Ehemann. Neben den intimen Momenten der Oper, etwa beim ersten Zusammentreffen der Borgia mit Gennaro oder auch im unerbittlichen Dialog mit ihrem Ehemann, Don Alfonso, geraten auch die Szenen besonders gut, in denen die Bühne mit handelnden Personen gefüllt ist. Wie bei den Festszenen, hier gerade im zweiten Akt, als die Borgia vergifteten Wein kredenzen lässt.

Aber die Inszenierung wirft auch durchaus Fragen auf.

Aalto Theater Essen/LUCREZIA BORGIA/Francesco Castoro (Gennaro), Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia), Statisterie
Foto: Bettina Stöß

Im Laufe der tragischen Handlung lässt Baur immer wieder fünf in weißen Gewändern gekleidete Mädchen auftreten, eine jede von ihnen mit fahl geschminkten Gesicht, die die Borgia umgeben und auch am Ende dann den Sohn der Lucrezia Borgia, Gennaro. Der Tod umgibt diese Frau in Gestalt ihrer verstorbenen Kinder, wie Baur es darstellen lässt. Und in der entscheidenden Szene zwischen den Freunden Gennaro und Maffio Orsini (eine Mezzosopranpartie) im 2. Akt, wo sich die Freunde lebenslange Treue schwören und Orsini letztlich Gennaro dazu überredet auch zum Fest zu kommen, lässt Ben Baur den Orsini in einem Kleid als Borgia-Double auftreten und erzeugt bei Gennaro die Illusion der begehrten Lucrezia Borgia gegenüberzustehen. Die Schlussszene, in der Lucrezia voller Entsetzen den Tod ihres Sohnes realisiert und ihm dann (eigentlich) auch in den Tod folgt, oder zumindest über ihm zusammen bricht (zuvor hatte Gennaro in seiner Sterbeszene von der Vereinigung von Mutter und Sohn im Tode gesungen), ist für den Belcantofan immer eine sehr entscheidende. In Baurs Interpretation aber überlebt Lucrezia offenbar und geht nach ihrer Finalarie langsam rückwärts hinter den Vorhang in den Bühnenbereich zurück. Insgesamt wirkt diese Szene eher statisch als hochemotional, ganz im Kontrast zu der intensiven Musik Donizettis in diesem entscheidenden Moment der Oper.

Mal unter uns „Belcanto-Freaks“ (Ben Baur bezeichnet sich selbst auch so): Dieses Finale ging mir einfach nicht unter die Haut. Schade eigentlich. Man mag es aber als meine persönlich-subjektive Meinung auffassen.

Das Bühnenbild von Ben Baur besteht aus einem die gesamte Bühne füllenden Raum und hatte als Mittelpunkt auf der linken Seite einen großen Kamin, der den Schriftzug „BORGIA“ (später dann nur noch „ORGIA“) trug. Die dunklen Steinwände spiegelten die Düsternis der damaligen Zeit und dieser Geschichte wider. In der Mitte dieses Einheitsbühnenbildes hatte Baur einen großen, roten Vorhang platziert, der an einen sogenannten „Brechtvorhang“ erinnerte, der temporär zur Trennung von Szenen oder der Reduktion des Bühnenbilds genutzt wird. Immer wieder wird er von den Protagonisten der Inszenierung auf- und zugezogen. Im Finale der Oper zieht Lucrezia den Vorhang dann ein letztes Mal zu, hinter dem ihr toter Sohn liegt und tritt zu ihrer – weiter oben bereits erwähnten – Schlussarie vor ihn.

Musikalisch bot das Aalto-Musiktheater sehr viel wahren Belcanto. Was für die Hauptpartien ebenso wie für die vielen kleineren und kleinen Rollen dieser Donizetti-Opernperle gilt.

Als Lucrezia Borgia setzte die italienische Sopranistin Marta Torbidoni gesangliche Glanzpunkte insbesondere in ihrer Auftrittsarie „Come è bello!“ und dann später auch im dramatischen Duett mit ihrem Ehemann Don Alfonso. Auch sie wurde von der Intendantin vor Beginn der Vorstellung als indisponiert angekündigt, meisterte aber die vielen Verzierungen dieser Partie bestens und begeisterte vor allem im Piano mit ihrem, auch in der Höhe sicheren, Sopran. Viel Jubel für sie am Ende vom Essener Publikum.

Als Gennaro überzeugte der Essener Tenor Franceso Castoro mit höhensicherer Stimme und viel gesanglichem Ausdruck. In der Partie des Don Alfonso, dem Ehemann der Lucrezia Borgia dann wieder ein Einspringer aus Italien: Mit Davide Giangregorio (Deutschlanddebüt) stand ein Bass in dieser Rolle auf der Essener Bühne, der mit kräftiger und strahlender Stimme dieser relativ kleinen, aber für die Handlung wichtigen, Partie großen Ausdruck verlieh. Interessant zu bemerken ist, dass alle drei erwähnten Künstler bereits im Mai dieses Jahres zusammen in Bologna in einer dortigen Lucrezia Borgia-Inszenierung auf der Bühne standen und somit ein eingespieltes Team bildeten.

Aalto Theater Essen/LUCREZIA BORGIA/Na’ama Goldman (Maffio Orsini), Tänzer
Foto: Bettina Stöß

Auch für die Rolle des Maffio Orsini musste sich Essen kurzfristig um Ersatz bemühen, da die ursprünglich vorgesehene Mezzosopranistin Liliana de Sousa ebenfalls absagen musste. Für sie sprang dann die israelische Mezzosopranistin Na’ama Goldman ein, die diese Gelegenheit zu nutzen wusste und mit beeindruckender und in allen Lagen sicherer Stimme und großer Spielfreude glänzte und auf ganzer Linie überzeugen konnte.

Die zahlreichen kleineren Rollen der Oper waren ebenfalls sehr gut besetzt und Beleg für die sehr gute Qualität des Essener Ensembles. Dies gilt auch für den Opernchor des Aalto-Theaters unter der Leitung von Klaas-Jan de Groot. Lob auch für die Tanzsolisten des Aalto-Theaters und die Statisterie des Hauses.

Am Pult der Essener Philharmoniker stand mit Andrea Sanguinetti ein international erfahrener Dirigent des Belcantofachs. Der designierte Essener GMD – ab der Saison 2023/24 übernimmt er die Stelle des Generalmusikdirektors – leitete einen glutvollen und die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne stets sehr unterstützend tragenden Donizettiabend. Er dirigierte die Partitur voller Gefühl aber auch mit der packenden Dramatik an den Stellen, die Donizetti dafür vorgesehen hatte. Viel Applaus, völlig verdient, für Dirigent und Orchester.

Fazit: Belcanto in Essen! Ein wundervolles Stück, musikalisch eindrucksvoll wiedergegeben. Bei der Regie hätte ein Weniger dann doch ein Mehr bedeutet. Donizetti hat doch eigentlich mit seinem Opernstoff schon so vieles an menschlichen Verfehlungen, an Irrungen und auch an Gräuel vorgegeben und dazu alles zusammen so „unter die Haut gehend“ mit seiner Musik veredelt.

 

  • Rezension von Detlef Obens / DAS OPERNMAGAZIN
  • Aalto Musiktheater Essen / Stückeseite
  • Titelfoto: Aalto Theater Essen/LUCREZIA BORGIA/Marta Torbidoni (Donna Lucrezia Borgia), Francesco Castoro (Gennaro) Foto: Bettina Stöß
Teile diesen Beitrag:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert