„Tannhäuser“ – Regietheater mit Tiefgang in Essen holt das Stück in die Gegenwart

Aalto-Theater/TANNHÄUSER/Astrid Kessler (Elisabeth), Deirdre Angenent (Venus)/Foto: Forster

„Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig,“ soll Wagner noch kurz vor seinem plötzlichen Herztod am 19. Februar 1883 in Venedig gesagt haben. Tannhäuser, Richard Wagners zweites Ich, ist ein Künstler auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis, der von den Konventionen seiner Zeit eingeengt und von der herrschenden Gesellschaft vernichtet wird. Regisseur Paul-Gerhard Dittrich macht daraus einen erkenntnistheoretischen Parforceritt durch die Jahrhunderte, bei dem das Mittelalter mit seinem Marienkult und der christliche Glaube mit seinem verstockten Papst denkbar schlecht abschneiden. Bezüge zur heutigen Wirklichkeit sind vermutlich beabsichtigt und sicher nicht zufällig. (Besuchte Vorstellung am 15.10.2022)

 

Die Inszenierung ist eine intellektuelle Herausforderung für Bildungsbürger. Der zweite Akt, zweifellos auch aus Wagners Sicht der gelungenste, spielt im Jahr MDX in der Kulisse der Philosophenschule von Athen, von Rafael 1510 als Fresko in der Stanza dell’Incendio di Borgo im zweiten Stock des Vatikanspalasts gemalt. Die Personen des Freskos (vorchristliche Philosophen wie Sokrates und Plato) werden eingeblendet, dann aber ausgeblendet, und die realen Opernfiguren treten auf.

Aalto-Theater/TANNHÄUSER/Opernchor des Aalto-Theaters/Foto: Forster

In der Philosophenschule von Athen diskutierten Gelehrte in der Tat über wesentliche Aspekte der menschlichen Existenz. Diese Kultur ging mit dem Untergang des römischen Reichs weitgehend verloren. Landgraf Heinrich, mittelalterlicher Fürst knüpft unbewusst genau an diese Kultur an, wenn er die Aufgabe stellt: „der Liebe Wesen“ zu besingen. Tannhäuser als Minnesänger, der es gewagt hat, seinen Herkunftsort zu verlassen und auch die erotische Liebeslust in den Armen der Liebesgöttin Venus zu erfahren und darüber zu singen, wird von seinen Zeitgenossen, die im Weltbild des Mittelalters mit der „Hohen Minne“ gefangen sind, überhaupt nicht verstanden. Das geht bis hin zur körperlichen Bedrohung durch Biterolf mit seiner blutigen Axt und zur Verbannung aus der Mitte der Hofgesellschaft des Landgrafen. Einzig Elisabeth versteht ansatzweise, was er meint, und setzt sich für ihn ein, so dass die Pilgerfahrt nach Rom zu seiner Begnadigung führen kann.

Richard Wagner hat in seinem „Tannhäuser“ ganz große Themen der menschlichen Existenz aufgegriffen. Der 1845 uraufgeführten Dresdner Fassung hat er für die Aufführung 1861 in Paris ein Bacchanal direkt nach der Ouvertüre und eine ausführliche Auseinandersetzung mit Venus hinzugefügt, in der Tannhäuser begründet, warum er sie und den Venusberg verlassen will. Das Bacchanal, in Essen weggelassen, betont den erotisch-extatischen Charakter der fleischlichen Lust. Darum geht es aber gar nicht in erster Linie, der Regisseur denkt weiter.

Mit dem Streit zwischen Tannhäuser und Venus beginnt die Inszenierung nach der bebilderten Ouvertüre. Das Reich der Venus ist hier der Wissenschaft und der naturwissenschaftlichen Forschung gewidmet. Der Liebe zwischen Tannhäuser und Venus entsprossen ist eine Tochter, die in dreifacher Ausfertigung auftritt. Hintergrund ist die bühnenhohe auf die Seite gekippte Statue der Venus von Milo, auch Aphrodite von Melos genannt, im 2. Jahrhundert vor Christus entstandene griechische Skulptur der Göttin der Schönheit, die sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts im Louvre in Paris befindet. Auf ihren Bauch werden Bilder aus einem möglicherweise reproduktionsmedizinischen  Forschungslabor mit Petrischalen, Ultraschallgeräten und einer recht blutigen Kaiserschnittentbindung projiziert.

Aalto-Theater/TANNHÄUSER/Deirdre Angenent (Venus), Daniel Johansson (Tannhäuser)/Foto: Forster

Der erste Akt könnte in der Gegenwart spielen, denn Venus verhält sich wie eine ganz normale moderne Frau, deren Partner Tannhäuser auf der Suche nach etwas, das er bei ihr nicht mehr findet, das Weite sucht. Am Ende des Akts leitet der Hirtenknabe über in die mittelalterliche Hofgesellschaft des Landgrafen Hermann von Thüringen, die auf der Jagd ist und Tannhäuser wieder in ihre Mitte aufnimmt.

Eigentlich endet das Stück nach dem zweiten Akt. Der Rest ist Reflektion über erkenntnistheoretische Feinheiten. Wie die Zeugen bei einer Gerichtsverhandlung sitzen Venus, ihre Tochter, der Hirtenknabe mit den Flügeln, Elisabeth und Wolfram auf einer Bank, die vor einem Gerichtssaal stehen könnte. Im Vorfeld eingeblendet ein Spruchband: Man soll nicht alles glauben, was man sieht. Wolfram führt in die Situation ein: Elisabeth betet an dieser Stelle immer für Tannhäusers Rückkehr als begnadigter Sünder.

Vom Rang her ertönt der Pilgerchor: Alle kehren entsündigt zurück. Nur Tannhäuser nicht, weil er zu weit gegangen ist. Er hat es gewagt, selbst zu denken.

Elisabeth erfleht von Gott ihren Opfertod, den sie für Tannhäusers Seelenheil: „um deine gnadenreichste Huld nur anzuflehen für seine Schuld!“ bereit ist zu sterben. Wolfram bietet ihr seine Hilfe an: „Elisabeth, dürft ich dich nicht geleiten?“ aber statt die Regieanweisung Wagners auszuführen: (Elisabeth drückt ihm abermals durch Gebärden aus, sie danke ihm und seiner treuen Liebe aus vollem Herzen; ihr Weg führe sie aber gen Himmel, wo sie ein hohes Amt zu verrichten habe; er solle sie daher ungeleitet gehen lassen, ihr auch nicht folgen) nimmt Wolfram sie in den Arm und küsst sie. Sie erwidert den Kuss, wehrt sich allerdings, als er weiter gehen möchte. Er insistiert, drückt sie auf den Boden und erwürgt sie, als sie sich wehrt. Sehr irritierend!

Wie Todesahnung …“, das Lied des Wolfram, eine der populärsten Arien aus dieser Oper, hätte man so handfest nicht umsetzen müssen!

Nach Elisabeths Tod tritt Tannhäuser auf und erzählt Wolfram, der Papst habe ihm die Vergebung verweigert. Er möchte in den Venusberg zurück und hat schon die Vision, dort angekommen zu sein, während seine Gefährten den Tod Elisabeths beklagen und ihn in der ewigen Verdammnis wähnen. Mit den Worten „Heilige Elisabeth, bitte für mich!“ stirbt auch Tannhäuser.

„Es tat in nächtlich heil´ger Stund der Herr sich durch ein Wunder kund: den dürren Stab in Priesters Hand hat er geschmückt mit frischem Grün: dem Sünder in der Hölle Brand soll so Erlösung neu erblühn! … Der Gnade Heil ward dem Büßer beschieden, nun geht er ein in der Seligen Frieden “, so beendet der von Klaas-Jan de Groot einstudierte großartige Chor die Oper. Gott hat Tannhäuser verziehen.

Aalto-Theater/TANNHÄUSER/Astrid Kessler (Elisabeth), Daniel Johansson (Tannhäuser), Heiko Trinsinger (Wolfram von Eschenbach), Deirdre Angenent (Venus) (v. l.)/Foto: Forster

Die Bühnenbilder und Kostüme von Pia Dederichs und Lena Schmidt verorten die Handlung des ersten Akts in der zeitlosen Gegenwart, wo am Ende durch den Gesang des Hirten in die mittelalterliche Gesellschaft übergeleitet wird. Der zweite Akt in der Schule von Athen ist ein philosophischer Diskurs im Stil der antiken Griechen, der aber aufgrund der mittelalterlichen Vorstellungen der Gesellschaft im Chaos und in der Ausgrenzung des revolutionären Tannhäuser endet. Die Kostüme und Masken griechischer Statuen könnten auch in Athen getragen worden sein. Der dritte Akt findet wieder in der Gegenwart statt, wie die Alltagskleidung Elisabeths, Wolframs und Tannhäusers zeigen. Nur der Hirte (eine Frau mit Engelsflügeln) fällt aus dem Rahmen.

Musikalisch sind die Essener Philharmoniker unter Georg Fritzsch und Chor und Extrachor des Aalto-Musiktheaters auf sehr hohem Niveau. Das Ende des ersten Akts lief etwas unkoordiniert, das Orchester hing irgendwo dazwischen, aber das passiert, wenn der Dirigent der Premiere (Tomáŝ Netopil), mit dem die ganze Zeit geprobt wurde, durch einen anderen ersetzt wird. Daniel Johansson als Tannhäuser, Astrid Kessler als Elisabeth, Deirdre Angenent als Venus, Heiko Trinsinger als Wolfram von Eschenbach und Karl-Heinz Lehner als Landgraf Heinrich überzeugten als Sänger*innen und Darsteller*innen auf der ganzen Linie. Auch die kleineren Rollen waren typgerecht besetzt.

Dieser Tannhäuser, ursprünglich schon für 2020 geplant, trägt noch ganz die Handschrift des geschiedenen Intendanten Hein Mulders. Auch mit dieser Regiearbeit von Paul-Georg Dittrich holt das Aalto-Theater Essen Opern in die Gegenwart.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Aalto Theater Essen / Stückeseite
  • Titelfoto: Aalto-Theater/TANNHÄUSER/Daniel Johansson (Tannhäuser), Astrid Kessler (Elisabeth), Opernchor des Aalto-Theaters/ Foto: Forster
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Ein Gedanke zu „„Tannhäuser“ – Regietheater mit Tiefgang in Essen holt das Stück in die Gegenwart

  1. Nachdem ich in der Deutschen Oper Berlin vor einigen Jahren die geniale Inszenierung von Kirsten Harms gesehen habe (5Mal), habe ich nicht gedacht, das ich nochmals einen Tannhäuser in so einer tollen Qualität erleben darf, aber das Aalto hat mich eines besseren belehrt. Fantastische Inszenierung, tolle Stimmen, hervorragende schauspielerische Leistuung und musikalisch geht es auch in Berlin, Wien und auch in Bayreuth nicht besser. Wer die Möglichkeit hat sollte als Wagnerfan nach Essen pilgern!

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