Verdis Requiem in Zürich, Mahlers Kindertotenlieder in Wien oder nun eben Benjamin Brittens War Requiem in Graz: Seit einigen Jahren ist es offenbar in Mode, Werke szenisch aufzuführen, die von den Komponisten nicht für diesen Zweck konzipiert wurden. Solche Experimente können durchaus funktionieren, aber auch völlig schiefgehen – wie nun bei der Saisoneröffnung der Grazer Oper. Denn Regisseur Lorenzo Fioroni hat eine belanglose Rahmenhandlung erfunden und macht aus dem War Requiem eine überfrachtete 360°-Kunstperformance, die schon beim Betreten des Opernhauses mit dem Anblick eines üppig mit Blumen geschmückten Sargs beginnt. Im Zuschauerraum wird die Trennung zwischen Bühne und Publikum aufgehoben, zwei Tribünen sind inmitten der Szenerie angesiedelt, die sich bis in die sechste Reihe des Parketts erstreckt.

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War Requiem
© Werner Kmetitsch

Nach dem Einnehmen der Sitzplätze passiert dann aber erst einmal gefühlt endlos lange nichts. Fast 20 Minuten schaut man nur dabei zu, wie Chor und Statisten in kleinen Grüppchen über den Mittelgang die Bühne betreten. Eine Mischung aus Staatsbegräbnis und Opernball scheint der Regisseur dabei erzählen zu wollen, denn bunte Ballkleider und Red-Carpet-Fotografen treffen auf Trauerflor und Kondolenzbuch. Für die drei Solisten werden Rollen erfunden, so muss Flurina Stucki als Todesengel in einem schwarzen Tüllberg finster dreinblicken, während Markus Butter als abgehalfterter Rocker gelangweilt herumstehen darf und Matthias Koziorowski als Phantom-der-Oper-Verschnitt traumatisiert über die Bühne hetzt.

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Flurina Stucki
© Werner Kmetitsch

Generell wird kein Klischee ausgelassen, so gibt es Debütantinnenpaare zu sehen, kirchliche Würdenträger, ein Regierungschef inklusive Staatsbesuch und theatralisch Trauernde, die gegen den Sarg schlagen. Zwischen Konfetti und Protesttransparenten wird auf der Bühne auch noch ein Büffet eröffnet und zusätzlich kann man auf zwei Videowalls verfolgen, wie eine Drohne durch die Stadt fliegt, schließlich die Oper als Ziel anvisiert und eine Bombendetonation verursacht. Bei all diesem szenischen Tamtam vergisst der Regisseur nur leider auf das Wichtigste, nämlich die Musik. Das Orchester wird in den hintersten Winkel der Bühne verbannt und verkommt dadurch beinahe zur Randnotiz. Darüber hinaus wird durch die Regie jede Chance genutzt, zusätzlich von Brittens Werk abzulenken. Zu hören waren von meinem Platz aus vor allem Störgeräusche: die Schritte all jener, die permanent über den Mittelgang auf- und abtreten mussten (natürlich inklusive Öffnen und Schließen der Türen); inszeniertes Gekreische, Gestöhne und Murmeln; Konfettikanonen und herumgeworfene Stühle.

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Matthias Koziorowski
© Werner Kmetitsch

Diese stiefmütterliche Behandlung haben die Grazer Philharmoniker und ihr Chefdirigent Roland Kluttig wahrlich nicht verdient und angesichts der alles andere als idealen Umstände ist ihnen die trotz allem gebotene Leistung wirklich hoch anzurechnen. Denn was man in den wenigen Momenten, in denen der Klang des Orchesters nicht durch sonstige Geräusche gestört wurde, zu hören bekam, ließ auf eine differenzierte und packende Interpretation der Komposition schließen. Die drei Solisten setzten ihre Rollen schauspielerisch mit viel Einsatz um, an der gesanglichen Front mussten jedoch einige Abstriche in Kauf genommen werden. So bot Flurina Stucki zwar kompromisslose vokale Attacke und verlieh ihrem Part dadurch viel Intensität, ihr Sopran neigt in der Höhe aber zu unangenehmen Schärfen und flackerte zusätzlich phasenweise unruhig. Wie man es auch dreht und wendet – das Timbre von Markus Butter klingt oft hart und spröde, die Stimme erledigt ihren Job technisch tadellos, aber eben nicht unbedingt mit fließendem Klang. Der Dritte im Bunde, Tenor Matthias Koziorowski, lieferte eine starke Leistung, er gestaltete nicht nur den Text eindringlich und wortdeutlich, sondern beeindruckte auch mit vokalen Nuancen.

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Flurina Stucki, Markus Butter, Matthias Koziorowski, Chor und Statisterie der Oper Graz
© Werner Kmetitsch

Das Highlight des Abends war aber der Chor, der für diese Produktion zusätzlich vom Extrachor der Oper Graz unterstützt wurde. Unter der Leitung von Bernhard Schneider bietet der Chor ohnehin seit Jahren höchste Präzision sowie Homogenität und Farbenreichtum im Klang, an diesem Abend wurde allerdings noch ein bisschen nachgelegt. Egal ob himmlisch entrückte Momente mit sanft ersterbenden Piani oder dramatische Ausbrüche mit voller (Stimm-)Kraft, dem Chor gelang bei dieser Premiere wirklich alles. Den Abend retten konnten sie im Alleingang zwar auch nicht; wie das Orchester hätten aber auch die Damen und Herren des Chors es wahrlich verdient, dieses Werk noch einmal ohne sämtliche Ablenkungsfaktoren aufführen zu dürfen.

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