Hindemiths „Neues vom Tage“ als temporeiche Revue-Oper im MiR Gelsenkirchen

MiR Gelsenkirchen/NEUES VOM TAGE/ E. Marguerre, P. Prochera/ Foto @ Fotos: Karl und Monika Forster

Mit Paul Hindemiths 1929 uraufgeführten Oper NEUES VOM TAGE ging der Premierenreigen im Gelsenkirchener Opernhaus nach CARMEN und MADAMA BUTTERFLY erfolgreich weiter. Es war durchaus nicht zu erwarten, dass Hindemiths relativ unbekannte Oper nach den beiden Opern-Blockbustern ebenfalls beim Publikum so gut ankam. Aber hier ist an vorderster Stelle dem gesamten Ensemble des MiR ein Kompliment zu machen – mal wieder -, denn den Spaß, den sie wohl alle selbst auf der Bühne empfunden haben, wussten sie 1:1 auf das Premierenpublikum zu übertragen. Hindemiths Oper stellt ein junges Paar in den Mittelpunkt, welches sich nur noch streitet und eine Scheidung herbeisehnt. Ganz nach aktuellen Vorbildern wird dieser eheliche Rosenkrieg bald öffentlich und die Pressemeute weis ihre sensationslüsternen Leser umfassend davon zu informieren. Allerdings, dass sich beide am Ende dann doch wieder einig sind die turbulente Ehe weiterzuführen, fällt auf großes Unverständnis der Öffentlichkeit. Denn die wollen einen Rosenkrieg, mit allem, was dazu gehört. Sex, Crime and Rock-and-Roll. Dann wirds eben nix mit der Scheidung. Aber dafür klingelt die Kasse. Denn zu schön ist es doch sich am Leben der anderen zu ergötzen und sich dabei moralisch zu erhöhen. Auch wenn es nichts zum Erhöhen gibt. Aber man/Frau liest ja so gern darüber. Ein großer musikalischer Spaß auf der Gelsenkirchener Bühne mit Eleonore Marguerre und Piotr Prochera als DEM idealen Paar der bestens zahlenden Yellow Press. (Rezension der Premiere v. 07.05.2022)

 

Hindemiths lustige Oper (wie er sie selbst bezeichnet hat) NEUES VOM TAGE ist eine herrliche Parodie auf das Lebensgefühl und die  Lebenssituation der späten 20-iger Jahre des letzten Jahrhunderts. Die aufkommende Yellow Press bekommt ebenso dabei ihr Fett ab, wie die typisch „amtsdeutschen“ Rituale eines Standesamtes und zudem wirft die Oper einen augenzwinkernden Blick auf die gesellschaftliche Mittel- und Oberschicht der damaligen Zeit. Eben jener Schicht, die sich zu Beginn eines neuen Jahrhunderts in der neuen Welt zurecht finden muss, ohne dabei ihre althergebrachten Prinzipien, Geschlechterrollen und Überzeugungen zu vergessen. Im Grunde war Hindemith seiner Zeit weit voraus. Denn vieles von dem, was er uns in seiner Oper zeigt, hat die Jahrzehnte bestens überlebt – ja geradezu ist so manches davon auf besondere Weise perfektioniert, wenn nicht sogar pervertiert worden. Denn ein Leben unter den ständigen Augen von Kameras und der Öffentlichkeit zu führen, Paparazzi und Reality-TV zur Beute vorgeworfen werden, mag anfangs vielleicht noch einigermaßen spannend sein. Aber mehr und mehr saugt der öffentliche Dauerblick auf den Menschen dessen eigene Individualität aus ihm heraus und macht ihn – oder auch sie – nur noch zu einem beliebigen Objekt der öffentlichen Sensationsbegierde.

MiR Gelsenkirchen/NEUES VOM TAGE/ E. Marguerre, P. Prochera/ Foto @ Fotos: Karl und Monika Forster

In NEUES VOM TAGE bedient sich ein junges, seit Beginn an, zerstrittenes Paar eines semi-professionellen Familienexperten um den gewünschten Scheidungsgrund, der ja damals von Amts wegen sehr wichtig war, liefern zu können. Der „schöne Herr Hermann“ soll es sein. Ein eher halbseidener Gigolo mit eigens dafür gutgehender Firma, der das Pech hat, sich immer in seine Klientinnen zu verlieben. Er filmt das angebliche Tête-à-Tête zwischen ihm und der scheidungswilligen Laura und sorgt zudem auch für gewisse Öffentlichkeit. Es soll ja bekannt werden, welch unsittlichen Lebenswandel diese junge Ehefrau führt. Denn dann kann sich Eduard endlich von seiner verhassten Angetrauten scheiden lassen. Aber irgendwie, und dank des schönen Hermanns, geht dann auch in dieser Geschichte der Schuss nach hinten los. Das eigentlich biedere und eher langweilige Paar Laura und Eduard werden durch die vielen nun folgenden äußeren Einflüsse gezwungen so zu leben, dass nun wirklich eine weitere Ehe nur eine Qual für die beiden wäre. Aber es ist die „Öffentliche Meinung“, die eben das sehen, lesen und hören will. Sie wollen keinen ehelichen Frieden am Esstisch bei Kaffee und Kuchen sehen. Denn wenn schon Esstisch, dann wenigsten beide liegend obendrauf. Ohne Kaffee und Kuchen versteht sich. Und so endet die Oper dann auch. Laura und Eduard sind nun Teil der Medienwirklichkeit geworden und müssen, ob sie wollen oder nicht, dem Affen Zucker geben. Was Hindemith wohl denken würde, hätte er damals einen Blick in die Zukunft werfen können? In unsere Zeit. In die Zeit der Medienvielfalt, des Internets, des Zurschaustellens um fast jeden Preis.

Musikalisch schafft Hindemith einen Mix verschiedener musikalischer Genres, bedient sich dabei auch so manch bekanntem Opernkollegen von ihm (Wagner lässt grüßen) und nimmt das Publikum  mit auf eine spannend-hinreißende Tour durch verschiedene Musikstile.

MiR Gelsenkirchen/NEUES VOM TAGE/ Ensemble/ Foto @ Fotos: Karl und Monika Forster

Sonja Trebes gibt ihrer Inszenierung keinen genauen zeitlichen Anstrich. Es spielt beinahe zeitübergreifend in den „Goldenen Zwanzigern“ des 20. Jahrhunderts und in der Gegenwart. Den zwanziger Jahren unserer Zeit. Und um die Bezüge auf die aktuelle Zeit darzustellen bedient sich Trebes der modernen Videotechnik (Video: Moritz Hils). So blitzen Handyselfies am Bühnenrand (Bühne: Dirk Becker) auf und im Hintergrund lässt sie Schlagzeilen Revue passieren. Alles ist in Bewegung. Und alles ist irgendwie, kaum gesehen, auch schon wieder von Gestern. Mit diesem flotten Inszenierungstempo zeigt Sonja Trebes auch auf, wie viel Kurzlebigkeit in der heutigen Zeit vorherrscht. Insbesondere wenn es um die Topmeldung des Tages geht. Denn was heute noch NEUES VOM TAGE ist, ist bereits morgen überlebt. Twittertrends auf der Bühne zum miterleben, sozusagen. Und so lässt sie auch das Ensemble agieren. Immer in Bewegung, von Moment zu Moment eiligst auf der Suche nach Neuem und dem Zeitgeist stets doch hinterher rennend. Die Kostüme (Julia Reindell) sind ein Mix aus frühem 20. Jahrhundert-Stil und klassischen Berufsuniformen, die so treffend das Beamtentum, als auch die „Bürodamen von Welt“ persiflieren. In der „Badewannen-Szene“, eine der markantesten Momente der Oper, wird die anwesende und neugierige Publicitymeute als eine Gruppe von sexlüsternen Menschen dargestellt, die mit ihren Körperanzügen bewusst den Blick auf ihre Geschlechtlichkeit lenken. Recht prall, recht üppig, recht derb. Aber so tickt nun mal ein nicht gerade kleiner Teil der Nutzer*Innen der Medienwelt. Viel Applaus am Ende für das gesamt Regieteam.

MiR Gelsenkirchen/NEUES VOM TAGE/ E. Marguerre, M. Homrich/ Foto @ Fotos: Karl und Monika Forster

In der Partie der jungen Laura war Eleonore Marguerre zu erleben. Und wie! Mit vollem darstellerischen Einsatz tauchte sie in diese Rolle ein und zeigte einmal mehr, dass ihr auch diese komödiantischen Rollen sehr liegen. Absolut überzeugend ihr Wandel von der zu Beginn keifenden und nörgelnden Ehefrau bis hin zur am Ende dann zwar wieder neu-verliebten, aber offensichtlich ratlosen Frau, deren Rolle nun von ihr durch die Medien und die Öffentlichkeit erwartet wird. Aber auch gesanglich war Eleonore Marguerre mit dieser anspruchsvollen Partie voll in ihrem Element. Sie ist nun mal eine tolle Sängerdarstellerin die heute „È stranoSempre libera“ und morgen das Loblied auf die „Warmwasserversorgung“ singen kann, wie es ihre Laura in Hindemith NEUES VOM TAGE so fasziniert von dieser neuen Technik anstimmt. Völlig verdienter Applaus und Bravorufe des Publikums für sie.

Mit Piotr Prochera stand ein Eduard auf der Bühne, dem jede Situation, jede Gefühlsregung und jede Verunsicherung seines Rollencharakters absolut abzunehmen war. Das Prochera neben seinen großen stimmlichen Mitteln auch über viel Sportlichkeit verfügt, war in dieser Inszenierung von großem Vorteil. Denn auch er war ständig auf der Bühne zu erleben, immer in Bewegung, stets im Blick von Publikum und Bühnenpublikum und dabei von bestechender Präsenz. Das ihm diese Rolle offensichtlich selbst sehr viel Spaß bereitet hat, war in jedem Augenblick zu spüren. Bei absoluter Textverständlichkeit so lebhaft zu spielen und zu singen verdient schon ein ganz besonderes Lob. Das sah das Gelsenkirchener Opernpublikum genauso!

Als der schöne Herr Hermann glänzte Martin Homrich mit  heldentenoralem Schmelz. Besonders eindrucksvoll in seiner Museumsszene mit Laura, die deutliche Anklänge an Wagnerisches Schwelgen vermittelte. Er spielte diesen skurrilen Scheidungsfachmann absolut überzeugend und hinreißend komisch.

MiR Gelsenkirchen/NEUES VOM TAGE/P. Prochera, E. Marguerre, A. Herbst, A. Temple-Smith, Statisterie/Foto @ Karl und Monika Forster

Der herrlich überdrehten Partie der Frau M verlieh Almuth Herbst Gestalt und Stimme. Und das dermaßen überzeugend, dass dieses Rollenportrait schon ein wenig an den legendären Loriot und seine besondere Gabe die passenden Darsteller für seine Charaktere zu finden, erinnerte. Denn an Almuth Herbst hätte der Altmeister des Humors wahrlich auch seine Freude gehabt. Stimmlich wie immer souverän, war sie aber auch optisch ein absoluter Hingucker! Herrlich bunt, herrlich schrill – ein toller Auftritt der Gelsenkirchener Mezzosopranistin.

Herr M wurde von Adam Temple-Smith sehr überzeugend dargestellt. Er war mehr oder weniger der Pantoffelheld seiner Frau M. Mal zog es ihn hin zu ihr, mal stiess sie ihn ab. Aber auch Temple-Smith ging wie seine Bühnenkollegen*Innen voll in seine Rolle auf und war seiner Frau M ein höchst kongenialer Partner.

In den kleineren Partien waren Philipp Kranjc (Standesbeamter), Alfia Kamalova (Zimmermädchen) und Tobias Glagau (Oberkellner) zu erleben und fügten sich nahtlos in das gesamte Bühnengeschehen ein. Das gilt auch für die Sechs Manager, die von Yancheng Chen, Tobias Glagau, Phillip Kranjc, Urban Malmberg, Petro Ostapenko und Adam Temple-Smith (teilweise in Doppelpartien) in sehr interessanten Kostümen dargestellt wurden.

Der MiR Opern- und Extrachor wurde von Alexander Eberle bestens auf diese turbulente und fordernde Rolle einstudiert. Viel Applaus auch für Chor und Chordirektor.

Besonders Lob an Giuliano Betta, der die Neue Philharmonie Westfalen sehr engagiert und nuanciert durch Hindemiths reichhaltige Partitur führte. Betta arbeitet die vielen Anklänge dieser Oper, wie Jazz, Operette, aber auch die Reminiszenzen  an Motiven klassischer Opernkomponisten (u.a. Wagner) absolut nachhörbar heraus. Eine sicher große Herausforderung für jeden musikalischen Leiter dieser Hindemith-Oper, die Giuliano Betta aber glänzend bestand. Hochverdienter Jubel für ihn und seine Neue Philharmonie Westfalen!

Fazit: Sie kennen Hindemiths NEUES VOM TAGE noch nicht? Das lässt sich ändern! Besuchen Sie das MiR in Gelsenkirchen und danach wissen Sie auch warum Ihnen in dieser Hinsicht etwas gefehlt hat. Ein höchst unterhaltsamer Opernabend mit vielen Eindrücken. Fürs Ohr und auch fürs Auge!

 

  • Rezension von Detlef Obens / DAS OPERNMAGAZIN
  • MiR Gelsenkirchen / Stückeseite
  • Titelfoto: MiR Gelsenkirchen/NEUES VOM TAGE/ E. Marguerre, P. Prochera/ Foto @ Fotos: Karl und Monika Forster

 

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