Viel hat die Harfe in dieser Partitur nicht zu sagen, doch wenn sie ertönt, dann mit solistischer und geradezu symbolischer Bedeutung. Als Richard Wagner 1860 seine Oper Der fliegende Holländer rund zwanzig Jahre nach deren Erstfassung überarbeitete, setzte er an die Stelle des harten Schlussakkords, mit dem das Schiff des Holländers ursprünglich versank, ein ätherisches Harfenarpeggio, das klanglich das veranschaulicht, was nunmehr auf der Bühne geschehen sollte: In verklärter Gestalt erheben sich der Holländer und Senta aus dem Meer.

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Der fliegende Holländer
© Christian Kleiner

In der Inszenierung von Roger Vontobel am Nationaltheater Mannheim erhebt sich allerdings nur die Gestalt der Senta, der Holländer ist längst auf sein Schiff geeilt, weil er glaubt, dass auch diesmal die Frau ihn im Stich gelassen hat, auf deren Treue er für seine Erlösung vom Fluch hoffte. Und es erhebt sich auch nicht die wahre Senta aus dem Meer, sondern ihr tänzerisches Double, die sich in der Takelage des Schiffs verfängt oder gar selbst erhängt hat. Vontobel hat die beiden Hauptfiguren mit einem tänzerischen Pendant versehen. So wird der Holländer während seines großen Monologs im ersten Akt von einer Tänzerfigur begleitet, die genau das tänzerisch umsetzt, was er im Gesang zum Ausdruck bringt: die Qualen, die der zur ewigen Fahrt auf den Meeren Verdammte erleidet, das Entsetzen über die eigene „Schockgeburt“. Michael Bronczkowski wirft sich zu Boden, drückt mimisch und gestisch die innere Unruhe dieser Figur aus, das Rastlose.

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Michael Bronczkowski (Traum-Holländer) und Delphina Parenti (Traum-Senta)
© Christian Kleiner

Das hätte zur bloßen Verdoppelung des gesungenen Worts führen können, doch Vontobel setzt den Tanz gewissermaßen als Realisierung dessen ein, was in der Musik ausgedrückt wird, denn auch wenn Wagner in dieser Oper  seine Leitmotivtechnik noch längst nicht entwickelt hatte, so „weiß“ die Musik doch stets mehr als die Figuren auf der Bühne. Wenn Daland, Sentas habgieriger Vater, dem Holländer seine Tochter buchstäblich verkauft, tritt zum Traum-Holländer eine Traum-Senta hinzu; wenn Senta im zweiten Akt ihre Ballade vom geheimnisvollen Holländer singt, wird sie dazu von eben dieser Tänzerfigur inspiriert; wenn sich in ihrer Ballade die zunehmende innere Verbundenheit mit diesem Fremden ausdrückt, tanzen Traum-Holländer und -Senta bereits wie ein lang vertrautes Paar.

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Marie-Belle Sandis (Mary), Daniela Köhler (Senta) und Jonathan Stoughton (Erik)
© Christian Kleiner

Das führt zu gelegentlich aufregenden Figurenkonstellationen. Wenn Erik seine geliebte Senta davon zu überzeugen versucht, zu ihm zurückzukehren, sind beide auf der Bühne getrennt durch das sich eng umschlingende Traumpaar. Das hat allerdings zur Folge, dass die Sänger auf der Bühne vergleichsweise statisch agieren, doch die Beziehung zwischen den Hauptfiguren gewinnt an Intensität.

Verstärkt wird diese Intensität noch durch das Bühnenbild. Fabian Wendling hat sich auf Schiffstaue beschränkt, die mal das Skelett eines Schiffs bilden, mal ein Gefängnis, mal ein Spinnennetz, in dem die Figuren sich verfangen. So entsteht ein sich ständig wandelnder magischer Raum.

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Daniela Köhler (Senta)
© Christian Kleiner

Vor allem kommt es dem Gesang zugute. Daniela Köhlers Stimme ist für die Senta eigentlich zu schwer; diese Senta ist kein Mädchen mehr, diese Senta weist schon in die Riege der Wagnerheldinnen à la Brünnhilde. Das wirkt sich in den lyrischen Passagen ihrer Ballade negativ aus, denn hier muss sie ihre Stimme regelrecht zügeln, doch die dramatischen Ausbrüche gewinnen bei ihr Brillanz und Durchschlagskraft mit im Lauf des Abends zunehmender Klangschönheit. 

Diese Brillanz erreicht der Erik von Jonathan Stoughton nicht immer; er gerät vor allem in der Schlussszene bisweilen an Grenzen. Sung Ha verfügt über einen wohlklingenden Bass, doch ist er mit dieser Stimme viel zu jung, als dass er die Jovialität und Bestimmtheit von Sentas Vater Daland glaubhaft verkörpern könnte; hier hätte eine reifere Stimme besetzt werden müssen, dafür charakterisiert er diesen Inbegriff des Wohlstandsbürgers mimisch brillant.

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Michael Kupfer-Radecky (Der Holländer)
© Christian Kleiner

Ein Glücksfall ist Michael Kupfer-Radecky als Holländer. Er versucht gar nicht erst, der Figur dämonische Züge zu verleihen, die er genau besehen auch in der Oper nicht hat. Sein Holländer ist ein fast depressiv Verzweifelter, der schon nicht mehr an seine Erlösung glaubt. Kupfer-Radecky verfügt über grandiose Tiefen und Höhen, vor allem kann er durch seine absolute Intonationssicherheit jeden Ton dieser schweren Partie genau artikulieren und jede Modulation und damit jeden Stimmungsumschwung prägnant stimmlich verkörpern. 

Ob er am Ende tatsächlich Erlösung findet, bleibt offen. Roger Vontobel will die Oper aus Sentas Perspektive zeigen. In einem Video während der Ouvertüre nähern wir uns ihrem Gesicht, ihrem Auge, ihrer Pupille und blicken in die Wassermassen, in die sie sich werfen will – der Sprung in den Freitod ist hier angedeutet. Doch hätte Vontobel Senta dann als beobachtende Instanz schon viel früher auf die Bühne bringen müssen. Durch die Doppelung der Figur kann er jedoch die Andeutung von Wagners späterer Vorstellung einer Erlösung des Holländers mit dem Realismus der frühen Fassung vereinen. Denn während die Traum-Senta sich in den Seilen des Holländerschiffs verfängt, verlässt die Sängerin der Senta das Schiff und begibt sich in die Welt, aus deren Enge sie eigentlich entfliehen wollte.

Die Vorstellung wurde vom Livestream des Nationaltheaters Mannheim auf OperaVision rezensiert.

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