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Opern-Kritik: Theater Kiel – Die Jüdin

Aufstieg des Bösen

(Kiel, 26.3.2022) Regisseurin Luise Kautz inszeniert Halévys Grand opéra „Die Jüdin“ mit starken Bildern und fesselnder Atmosphäre, die vom Philharmonischen Orchester Kiel unter der Leitung von Daniel Carlberg noch intensiviert wird.

vonAndré Sperber,

Es ist wie ein Geschwür, eine sich langsam, ausbreitende Krankheit: Zunächst sind es nur ein paar unangenehme Unruhestifter. Ein paar geistlose Rowdys, die man mit angewiderter Verachtung straft. Doch dann werden Lügen verbreitet, Flugblätter verteilt, Konflikte heraufbeschworen, Hass geschürt. Da sind es auf einmal schon viel mehr, die mitmachen, hetzen, Fahnen schwenken, übergriffig werden. Der Einfluss wächst, die Masse verändert sich, Systeme werden untergraben, Herrscher instrumentalisiert und gestürzt, die Macht ergriffen und missbraucht – und plötzlich sind sie alle dabei. Sogar die, die gar nicht wollen, denn wer nicht mitmacht, dem droht Böses.

Mit erschreckendem Realismus wird in den fünf Akten von Fromental Halévys einschneidender Grand opéra „Die Jüdin“ am Theater Kiel der unsägliche Weg in den Faschismus und auflodernden Antisemitismus dargelegt. Regisseurin Luise Kautz verlegt die ursprünglich im 15. Jahrhundert angesiedelte Opernhandlung in die Zeit kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Zwar werden insgesamt keine offenen Symbole gezeigt (Ausrufezeichen statt Hakenkreuzen), die Assoziationen sind jedoch eindeutig und unverkennbar, lassen aber gleichzeitig durch die offene Verschleierung auch geschickt Gegenwartsbezüge zu. Spätestens als der wütende Mob den steinernen Regierungssitz stürmt und demontiert, was – nicht zuletzt durch den beteiligten Schamanenhäuptling mit Megafon – an die Erstürmung des Kapitols in den USA im Januar 2021 erinnert, wird dies deutlich. Dass diese Form der Auslegung absolut glaubwürdig funktioniert, zeigt auch, wie aktuell Halévys 1835 uraufgeführtes Werk und Eugène Scribes Libretto noch heute sind.

Szenenbild aus „Die Jüdin“
Szenenbild aus „Die Jüdin“

Innen- und Außenperspektiven

Dass jedes Bild dabei eine eigene ganz besondere Atmosphäre erhält, die das Publikum unmittelbar in das Geschehen hineinzieht, liegt auch an dem gut durchdachten, sehr wandelbaren Bühnenbild von Valentin Mattka: Mehrere einzeln bewegliche Wandblöcke bilden die Fachwerkfassaden von heimelig wirkenden Häusern, die sich unterschiedlich kombiniert zusammensetzen und immer wieder neue Schauplätze in einer beschaulichen Stadt entstehen lassen. Ergänzt werden sie durch einen ebenfalls verschiebbaren, großen steinernen Torbogen. Besonderer Clou: Einmal umgedreht, zeigen die Elemente zusätzlich auch noch das Innenleben der Gebäude. So gibt es einen ständigen Wechsel zwischen Innen- und Außenperspektiven.

Szenenbild aus „Die Jüdin“
Szenenbild aus „Die Jüdin“

Die Musik intensiviert die visuelle Wirkung

Zentrale Kernthematik des Rachedramas ist natürlich das problematische Verhältnis zwischen Christen- und Judentum. Der jüdische Goldschmied Éleazar und seine (vermeintliche) Tochter Rachel sind zunächst weitestgehend geduldete Außenseiter innerhalb des christlichen Umfelds, werden von letzterem jedoch mehr und mehr in die Rolle des Feindbilds gedrängt. Einen starken Kontrast zeigt Luise Kautz dabei auch in der repräsentativen Darstellung der beiden Religionen: Auf Außenwirkung angelegter Prunk, Protz und Glorie mit Orgelklang und Jubelchor stehen beim christlichen „Te Deum“ in der riesigen Kathedrale dem dicht gedrängt, heimlich zu Hause im kleinen Kreise bei warmem Kerzenschein gefeierten Pessach-Fest mit ehrlich andächtiger A cappella-Musik gegenüber. Beide Bilder sind atmosphärisch nicht minder stark gezeichnet als die spätere Siegesfeier mit großen Reden und ausschweifender Dramatik, die gleichzeitig eindrucksvollen, aber mit unheimlichem, dunklem Beigeschmack versehenen Fackelzüge durch die Straßen sowie letztlich die finale Hinrichtungsszene.

Szenenbild aus „Die Jüdin“
Szenenbild aus „Die Jüdin“

Hálevys facettenreiche, ausdrucksstarke Musik intensiviert die Wirkung des Visuellen noch um ein Vielfaches. Das Philharmonische Orchester Kiel unter Daniel Carlberg bringt die Nuancen mit geladener Energie hervor. Der Chor meistert seine wichtige Rolle als immer bedrohlicher werdende Stadtbevölkerung mit Bravour. Der politische Verfall des Volks zeigt sich dabei auch in den Kostümen von Hannah Barbara Bachmann: Volkstümliche, traditionelle Trachten (schon von vornherein in farblosem schwarzweiß gehalten) wandeln sich nach und nach mehr zu einem einheitlichen Grau.

Großartige musikalische Darbietung

Für solistische Höhepunkte sorgte ohne Zweifel Tenor Anton Rositsky als verbitterter, von Rachegelüsten getriebener Eléazar. Seine von Halévy musikalisch intensiv auskomponierten inneren Konflikte machen diesen Part zu einer der großen Tenorprüfungen, die Rositsky durchweg souverän meistert. Auch Angélique Boudeville als Rachel glänzt mit ihrem glasklaren, kraftvollen, selbstbestimmten Sopran sowohl bei den Solo-Arien, als auch in den Duetten, von denen das Sopran-Duett mit Rachels Rivalin Eudoxie in der Gefängnis-Szene sicherlich das markanteste ist. Mengqi Zhang entpuppt sich mit filigraner, stimmlicher Agilität dabei als würdige Partnerin. Matteo Roma fiel als Reichsfürst und Rachels opportunistischer Liebhaber Léopold kurzfristig aus, für ihn sprang spontan Tenor Thomas Paul ein, der mangels Vorbereitungszeit mit der Rolle zu kämpfen hatte, sich aber tapfer durchbiss. Der stets zwischen den Stühlen stehende, von den Aufrührern instrumentalisierte und letztlich machtlose Kardinal Brogni bekam durch den dunkel gerundeten Bass von Sergey Stepanyan eine ruhige, bedachte Ausstrahlung mit eindrücklicher Wirkung. Der Bass-Bariton-Part von Matteo Maria Ferretti als Ruggiero blieb stimmlich eher unauffällig, er überzeugte mehr schauspielerisch durch die ihm zugewiesene Rolle als aufstrebender Führer.

Szenenbild aus „Die Jüdin“
Szenenbild aus „Die Jüdin“

90 Jahre hat es gedauert, bis „Die Jüdin“ in Kiel erstmals wieder zur Aufführung gekommen ist. Durch einen guten Blick fürs Detail, eine absolut nachvollziehbare Darlegung von Konflikten, starke Bilder und eine dichte Atmosphäre ist Luise Kautz mit ihrer Inszenierung ein großer Wurf gelungen. Und auch die musikalisch großartige Darbietung zeigt hier, dass dieses Werk unbedingt wieder seinen Weg zurück ins Standartrepertoire der Opernlandschaft finden sollte.

Theater Kiel
Halévy: Die Jüdin

Daniel Carlberg (Leitung), Luise Kautz (Regie), Valentin Mattka (Bühne), Hannah Barbara Bachmann (Kostüme), Gerald Krammer (Chor), Anton Rositskiy (Éléazar), Angélique Boudeville (Rachel), Matteo Roma (Léopold), Mengqi Zhang (Prinzessin Eudoxie), Sergey Stepanyan (Kardinal Jean-François de Brogni), Matteo Maria Ferretti (Ruggiero), Samuel Chan (Albert), Opernchor und Extrachor des Theaters Kiel, Philharmonisches Orchester Kiel

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