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Opern-Kritik: Opéra de Lyon – Rigoletto

Der doppelte Rigoletto

(Lyon, 18.3.2022) Filmregisseur Axel Ranisch inszeniert seinen Verdi mit listiger Verschmitztheit, Neugierde und Freude am Spielerischen gleich zweimal. Daniele Rustioni erfindet die Partitur auch musikalisch neu.

vonPeter Krause,

Dieser schon lange nicht mehr taufrische Spießbürger aus der Unterschicht müsste eigentlich Operettenmelodien lieben, deren Herz-Schmerz-Melodien das Gemüt ganz direkt ansprechen – und die das eigene Elend für einen Abend mit Bier und Salzstangen vergessen lassen. Doch seine Wohnung im Plattenbau der Vorstadt einer Metropole ist mit Fotos von Operndiven gespickt, und das Bücherregal strotzt von Langspielplatten und VHS-Kassetten, auf denen die Musik seines absoluten Lieblingskomponisten abrufbar ist: Giuseppe Verdi. Von dessen populärer Oper „Rigoletto“ stehen gleich diverse Aufnahmen bereit. Heute will der schon leicht adipöse Herr– das Programmheft nennt ihn Hugo (Victor Hugo hat einst mit „Le roi s’amuse“ die Vorlage für das Libretto von Francesco Maria Piave geliefert) – mal wieder schwelgen und die Arien der Gilda „Caro nome“ und des Duca „La donna è mobile“ genießen. Und dann in der Geschichte der Oper, die ihn anrührt, doch auch das eigene Lebensschicksal gespiegelt sehen, das ihm als alleinerziehendem Vater so viel abverlangt hat und das er, so sein Gesichtsausdruck, gründlich vermasselt hat. Der Mann hegt Suizidabsichten.

Axel Ranisch wirkt wie ein großes Kind am Regiepult

Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon
Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon

Wie Axel Ranisch in seine Neuinszenierung von Verdis „Rigoletto“ an der Opéra de Lyon mit einer Videosequenz einsteigt, ist so listig wie lustig. Denn er spielt da ja zunächst mit den Klischees, die wir mit dem populären mittleren Verdi verbinden, der ja in der Tat Gassenhauer geschaffen hat: Musik für alle. Will der junge Berliner Filmregisseur, der mit wachsender Begeisterung und ehrlicher wie unverbildeter Musikalität nun auch Oper macht, mit einer Kritik an der Rezeptionsgeschichte des Pop-Komponisten namens Verdi in das Stück eintauchen? Ranisch wirkt in seiner Verschmitztheit, seiner Neugierde und Freude am Spielerischen wie ein großes Kind und legt als solches schon auch mal falsche Fährten. Der Regisseur, der hier natürlich selbst für die starken Filmsequenzen verantwortlich zeichnet, wird dann sehr wohl auch noch die Opernhandlung erzählen, die er in die jüngere Vergangenheit der Punker versetzt. Es riecht nach der Vorstadttristesse der 1980er, in der sich in Gegen- und Unterwelt durchaus gefährliche Milieus ausgebildet haben.

Die Tristesse der Vorstadt

Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon
Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon

Da treibt also ein präpotenter Spielhallenmafioso sein Unwesen in der Vorstadt, er heißt Duca, liebt junge Damen aller Arten im Akkord und lässt sie alsbald wieder fallen. So wenig sympathisch war der Herzog von Mantua wohl noch nie. Enea Scala singt ihn passend dazu mit viel Tenormetall und Überdruck, meist zwischen Forte und Fortissimo, unterm Strich nicht wirklich stilpräzise für den hier noch dem Belcanto huldigenden Verdi, aber doch höchst eindrucksvoll, höhensicher und phonstark. Charakterzeichnung und vokales Profil entsprechen sich perfekt. Jüngstes Opfer seiner sexuellen Gier ist ein pubertierender Teenager, die kleine Gilda, die dem ersten Mann, der ihr ein „Ti amo“ zuraunt, auch gleich auf den Leim geht. Nina Minasyan, singt die perfekten, dramatisch durchpulsten Koloraturen. Zu dem Geständnis hat der Duca den Mafiosoanzug natürlich flink gegen jugendliche Klamotten getauscht und gibt sich als Student aus. Gilda glaubt ihm, wie sollte sie in dieser Tristesse auch schon ein Auge für Akademiker entwickelt haben, die hier kaum rumlaufen? Ihr Papa Rigoletto passt indes wie ein Hund auf sie auf, als alleinerziehender Vater ist er mit seinen Aufgaben als Alleinerziehender in diesem harten Ambiente chronisch überfordert. Ob er – im Libretto ist Rigoletto ja der Hofnarr des Herzogs – selbst in Diensten des Mafia-Duca steht, lässt Ranisch offen. Das Verhältnis der beiden Männer in diesem prekären Sozialgefüge, das nur wenige Gewinner kennt, bleibt unklar.

Die Verschaltung der Erzählebenen von Film und Oper gerät Axel Ranisch kunst- und lustvoll

Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon
Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon

Dafür liefert Axel Ranisch aber ja die zweite Ebene seiner Inszenierung – den Film, in der er psychologisch präzise die Figuren einführt. Hier erfahren wir über Hugo als einer Art alterndem Rigoletto, dass er seine Frau einst bei der Geburt seiner Tochter verloren hat, die im Film auch von der Gilda-Sängerin Nina Minasyan dargestellt wird. Seine Erschütterung bei der Todesnachricht des Arztes im Krankenhaus wirkt auch auf das Publikum erschütternd. Mit der allein väterlichen Erziehung des Töchterchens scheint es hernach nicht so ideal zu laufen. Der Trotzkopf will weg aus der kleinen Wohnung im Plattenbau, wirft sich einem langhaarigen, deutlich älteren Typen an den Hals, dem Hugo nachspioniert und den er abknallen will. Immer wieder legt sich so die Filmschicht über die Opernhandlung, und im Kopf des Publikums verschmilzen die Ebenen mitunter.

Mehr noch: Hugo steigt aus dem Film aus und in die Opernhandlung ein, gleich einem teilnehmenden Beobachter, dessen Identifikation mit den Figuren seiner Lieblingsoper dazu führt, dass er glaubt, Teil des Stücks und der Musik zu werden. Die Verschaltung der Erzählebenen gerät Axel Ranisch kunst- und lustvoll, die regiehandwerkliche Präzision seiner mehr als doppelten Arbeit ist bestechend. In besonders starken Filmsequenzen führt seine Methode allerdings auch dazu, dass die Aufmerksamkeit des Publikums von der Opernhandlung und deren Musik weg auf die Videos gelenkt wird, da wird Verdis Gesang, um den in Lyon einmal mehr exzellent bestellt ist, zum Soundtrack degradiert. Der Effekt am Ende des Abends ist gleichwohl aufregend: Da verbinden sich zwei ähnliche Geschichten miteinander, und der szenisch etwas blasse, singende Rigoletto – Dalibor Jenis singt ihn mit Baritonmacht, eher vom deutschen Fach denn vom italienischen kommend voller markanter Artikuklation – wird von seinem Schauspieler-Alter ego mit dessen Schicksal aufgeladen. Der deutsche Schauspieler Heiko Pinkowski, ein enger Weggefährte des Regisseurs, verleiht Hugo tragische Underdog-Größe.

Knackiger Verdiklang: ein weiterer Triumph für Daniele Rustioni

Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon
Szene aus „Rigoletto“ an der Opéra National de Lyon

Während Axel Ranisch für seine das Publikum fordernde, auch mal überfordernde Regiehaltung auch einzelne Buhs einfängt, feiert Daniele Rustioni mit seinem Orchester einen weiteren Triumph. Der italienische Musikdirektor liest seinen Verdi so, als hätte der ihm eine frische, ganz neue Partitur aufs Pult gelegt. Sie birgt bei ihm ungeahnte Sprengkraft, die Akzente kommen knackig, die Tempi stürmen und drängen, die rhythmische Verve und die Präzision zumal auch in den Chören („Zitti, zitti“) zeigen die ganze Meisterschaft des jungen Maestro. Der diesjährige Auftakt des Frühjahrfestivals „Secret de Famille“ der Opéra de Lyon geriet nach Maß: streitbar und einem zentralen Werk des Kanons neue Wege weisend.

Opéra de Lyon
Verdi: Rigoletto

Daniele Rustioni (Leitung), Axel Ranisch (Regie & Video), Falko Herold (Bühne), Alfred Mayerhofer (Kostüme), Michael Bauer (Licht), Rainer Karlitschek (Dramaturgie), Enea Scala, Dalibor Jenis, Nina Minasyan, Gianluca Buratto, Agata Schmidt, Roman Chabaranok, Daniele Terenzi, Orchester der Opéra de Lyon

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