Hauptbild
Wolfgang Schwaninger (Quint), Evmorfia Metaxaki (Die Gouvernante). Foto: © Jochen Quast
Wolfgang Schwaninger (Quint), Evmorfia Metaxaki (Die Gouvernante). Foto: © Jochen Quast
Hauptrubrik
Banner Full-Size

Sonderbare Geschichte … – Brittens Kammeroper „The Turn of the Screw“ in Lübeck

Autor
Publikationsdatum
Body

Benjamin Britten hat in Lübecks Musikleben einen festen Platz, nicht nur weil sein „Death in Venice“ nun einmal in die Thomas Mann-Stadt gehört. Auch anderes aus seinem vielseitigen Opernschaffen ist auf dem Spielplan des Theaters verankert. Zurzeit wird ein ganzer Zyklus erarbeitet. „Owen Wingrave“ gehört dazu, mit seiner Pazifismus-Parabel zu Beginn der Spielzeit durch Afghanistan aktuell, inzwischen noch mehr durch die Entwicklung in der Ukraine. Die zweite Inszenierung, nur ein halbes Jahr später, gilt „The Turn of the Screw“ (Premiere: 11. März 2022), auch darin die Thematik von beklemmender Dichte und durchaus von gesellschaftlicher Sprengkraft.

Ob die Absicht aufgeht, mit „Albert Herring“, einem Werk im komischen Fach, den Zyklus in der nächsten Spielzeit adäquat abzuschließen, wird sich zeigen.   

Der britische Regisseur Stephen Lawless war eingeladen. Er wird sich mit dieser Aufgabe einen lang gehegten Traum erfüllen, ein Geständnis, das ihm die Dramaturgin Polina Sandler in einem Interview entlockte. Er kennt Britten gut, hatte noch kurz vor dessen Tod 1976 mit ihm und seinem Lebenspartner Peter Pears zusammengearbeitet. Sich neu und intensiv mit Britten zu befassen, fügte sich gut, zumal im letzten Jahr sein Wunsch unerwartet Unterstützung fand. Sie kam von Corona. Die mit dem Virus verbundenen Einschränkungen förderten den Plan, vor allem die beiden ersten, weniger bekannten Werke zu inszenieren. Von dem einen, von „Owen Wingrave“, gab es bereits eine reduzierte Fassung, „The Turn of the Screw“ war als Kammeroper konzipiert. Die kleineren Besetzungen auf der Bühne und im Graben spielten dem Entschluss also zu.

Gefragt, was die Werke verbindet, die er zyklisch vereinen will, verweist Lawless darauf, dass die beiden kürzeren Opern Studien seien über „Doppelmoral“ und „über verborgene Sexualität“, im „Albert Herring“ erweitert noch um „bürgerliche Ansichten“. Speziell „The Turn oft he Screw“ bietet dabei einen intimen Blick in eine wohlhabende englische Gesellschaft. Kinder aufzuziehen, ist in ihr Gouvernanten und einem spezialisierten Personal überlassen. Das trifft die eigenen Nachkommen manchmal hart, auch die anempfohlenen Kinder, deren Vormünder ihre Pflichten auf diese Weise delegieren. Die Vorlage dafür fand sich wie in „Owen Wingrave“ wieder bei dem Schriftsteller Henry James. Aus seiner gleichnamigen Novelle gestaltete Myfanwy Piper das Libretto.   

Geschehen

Die Gouvernante in „The Turn oft the Screw“ ist namenlos. Sie übernimmt im Auftrage eines nicht präsenten Vormunds den Job von Miss Jessel, die erst kürzlich verstorben war. Zwei Waisenkinder hat sie zu erziehen. Miles ist etwa 13 Jahre alt, seine Schwester Flora drei, vielleicht vier Jahre älter. Beide sind nicht leicht zu lenken, werden im Laufe der Handlung zunehmend als „böse“ empfunden, so dass sich zwischen ihnen und ihrer Gouvernante nun der vielleicht übliche Machtkampf entwickelt. Neben der Gouvernante versorgt Mrs. Grose die Kinder, auch sie Nachfolgerin eines Verstorbenen, des Dieners Quint.

Das Spiel beginnt mit einem Prolog, der einen psychiatrischen Fall vorspiegelt, die Gouvernante darin als Patientin, deren Inneres in Form eines Tagebuchs der Arzt in Händen hält. „Es ist eine seltsame Geschichte“, so beginnt seine Anamnese. 16 Szenen folgen, in denen die Entwicklung der Tragödie, die mit Miles Tod endet, nachvollzogen wird und das Spannungsgewebe der Protagonisten offenlegt. Darin verwickelt sind auch die beiden vorherigen Erzieher, Miss Jessel und Quint, die das Leben der Kinder über ihren Tod hinaus bestimmen und hier als Untote in das Geschehen eingreifen. Die beiden Gouvernanten gleichen sich wie Doubles. So wird ihre Auseinandersetzung zu einer Bewusstseinsspaltung, zumal beide in ein wie immer zu deutendes inniges Verhältnis zu Miles eintreten. Das vertieft ein schon musikalisch bei Britten angelegter ambivalenter Ton, der rätselhaft einerseits, zugleich aber real doppeldeutig die Fantasie des Besuchers stimuliert.

Gestaltung

Der szenische Ablauf ist in 16 Szenen höchst konzentriert erfasst. Ihm folgt Britten feinsinnig mit seiner Gestaltung, die in 16 Variationen das Thema des Prologs anpasst. Es besteht aus einer 12-Tonreihe, ist dennoch im Wesen tonal. Die Variationen bleiben atmosphärisch immer dicht an der Handlung, auch im Duktus der Gesangslinien. So gelingen teils impressionistisch, teils expressiv gestaltete, auch volksliedhafte Partien. Frank Philipp Schlößmann schuf dazu ein eindrucksvolles Bühnenbild, das mit dem sterilen, weißen Behandlungsraum im Vordergrund nicht vergessen lässt, dass hier eine psychiatrische Analyse vollzogen wird. So bleibt das Thematische des Anfangs immer präsent. Nach hinten öffnen sich naturhafte Außenräume oder Interieurs eines herrschaftlichen Gebäudes, in denen sich die geheimnisvollen Szenen abspielen. 

Die Agierenden

Gebannt kann der Besucher ein bemerkenswert dichtes Agieren verfolgen. Wolfgang Schwaninger ist dabei der Seelendoktor, eine Art Spiritus Rector. Sein kraftvoller Tenor, zugleich von baritonalem Timbre ist wie geschaffen für diese Rolle, bei der er auch in die Rolle des Quint schlüpft, dessen Einfluss auf den Jungen fortbesteht. Mittelpunkt des Geschehens ist die Gouvernante, die Evmorfia Metaxaki sehr facettenreich stimmlich und darstellerisch erfasst. Als Leidende oder strenge Lehrerin, als Hilfe Suchende oder sich liebevoll Zuwendende findet sie stets den richtigen Ausdruck. Eine großartige Leistung! Neben ihr steht Jakob Geppert seine vielschichtige Partie außerordentlich vital durch. Er ist Solist des Knabenchores der Chorakademie in Dortmund und vollzieht überzeugend den Weg von dem „noch“ verspielten Bruder zu dem in die Lehrerin Verliebten, schließlich aber an dem Zwiespalt zwischen dem Vergangenen und Gegenwärtigen Zerbrechenden.

Hörenswertes

Die Inszenierung hält großartig alles im Vagen, was zwischen den Kindern und den Erwachsenen hätte geschehen sein können. Dazu gehören auch die Begebenheiten um Mrs. Grose, der Wioletta Hebrowska mit ihrem wunderbaren Mezzo alles gibt. Auch hier bleibt das Verhältnis zu allen anderen, das zu den Kindern wie das zur Gouvernante, aufregend changierend. Auch Nataliya Bogdanova, Mitglied des Lübecker Opernstudios, trifft diesen indifferenten Ton. Eine hörens- wie sehenswerte Flora  gestaltet sie damit. Es bleibt noch Sabina Martin zu erwähnen, die vierte Frauenstimme in dieser eindringlichen Inszenierung. Sie verkörpert mit viel Finesse das geisterhafte Double der Gouvernante.

Das Theater Lübeck blieb glücklicherweise beim Originaltitel. Gut so, denn die drei deutschsprachigen Versuche, „Die Drehung der Schraube“, „Die sündigen Engel“ oderDie Besessenen“, würden das Gebotene nicht einfangen. Ein weiterer Glücksfall dieser Inszenierung ist, dass auch das Instrumentale der Qualität der Szene nicht nachsteht. Takahiro Nagasaki, 1. Kapellmeister und stellvertretender Generalmusikdirektor, zaubert aus dem Graben sensible Klänge, schafft mit den Musikern des Philharmonischen Orchesters spannungsvolle Begleitungen und hält eine sehr konzentrierte Verbindung zur Bühne.

Das Publikum zeigte seine Zustimmung mit langem Beifall.

Weiterlesen mit nmz+

Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.

 

Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50

oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.

Ihr Account wird sofort freigeschaltet!