Wahnsinn und Tod – „Lucia di Lammermoor“ in Essen bejubelt

Aalto Theater Essen/LUCIA DI LAMMERMOOR/Hila Fahima  Baurzhan Anderzhanov, Opernchor, Foto @Matthias Jung

Eine Frau, – Lucia -, ersticht in ihrer Hochzeitsnacht ihren frisch angetrauten Gatten Arturo und fantasiert im Wahnsinn über das Liebesglück mit ihrem verloren geglaubten Geliebten Edgardo, der ein paar Minuten nach Vollzug der Trauung unerwartet aufgetaucht ist – welcher Skandal! Dietrich Hilsdorfs 21. Essener Inszenierung lässt keinen Zweifel daran, dass es in dieser 1836 uraufgeführten Belcanto-Oper um den Tod geht. Auf dem Souffleurkasten, der als Altar dekoriert ist, steht „Mors certa – hora incerta“, ein Memento Mori, das immer gegenwärtig ist. Mit fesselnder Personenregie legt er offen, wie Machtstrukturen innerhalb der eigenen Familie Personen zerstören können. Titelheldin Lucia zerbricht am Loyalitätskonflikt zwischen ihrem Bruder Enrico, der sie mit Betrug zu einer Ehe nötigt, und ihrem Geliebten Edgardo, der sie der Untreue bezichtigt. Lucias Wahnsinnsarie kann als Höhepunkt des Belcanto angesehen werden. (Besuchte Vorstellung am 26.02.2022)

 

Der zu Grunde liegende Schauerroman von Walter Scott spielt im 17. Jahrhundert in Schottland und bezieht nach dem Modell von Shakespeares Macbeth auch drei Hexen ein, die ihr Unwesen auf dem Friedhof treiben. Sie treten zum Vorspiel auf und reißen den Vorhang nieder.

Dietrich Hilsdorf stellt die Einheit von Raum und Zeit wieder her, indem er alles in einem tiefschwarzen Einheitsraum von Günter Leiacker mit einem umlaufenden Band senkrechter Neonröhren, der sich später nach hinten weitet, spielen lässt. Dadurch entfallen Umbaupausen, das Verhängnis ereignet sich in Echtzeit.

Die geniale Lichtregie von Mark Brose ermöglicht die Gestaltung des Gewitters am Anfang des 5. Bilds mit Spezialeffekten wie blendenden Lichtblitzen und dem stroboskopartigen Aufflackern der Neonröhren zur aufwühlenden Musik.

Mit dem Auferstehen der verstorbenen Lady Ashton aus dem auf dem Tisch aufgebahrten Sarg als ihre Mutter Alisa Ashton im 1. Bild kann der Zuschauer alles als Imagination Lucias deuten.

Als Requisiten zwei Tische, ein Sarg, ein paar Stühle, ein Bett, ein runder Deckel im Boden, der den Brunnen symbolisiert, an dem sich Lucia und Edgardo treffen, während Alisa aufpasst – alles findet ohne Umbau statt, der Raum ist abwechselnd verschiedene Räume im Schloss Ravenswood – das Sterbezimmer, der Festsaal, der Wald mit dem Brunnen und der Hof vor dem Schloss.

Die Handlung ist, an den Kostümen von Gesine Völlm erkennbar, in die Entstehungszeit verlegt. Alle tragen Schwarz, nur die Kleidung Lucias und ihres Bräutigams ist weiß, wo sich das rote Blut besonders dramatisch abhebt.

Aalto Theater Essen/LUCIA DI LAMMERMOOR/Hila Fahima , Baurzhan Anderzhanov, Opernchor, Foto @ Matthias Jung

Als der Priester Raimondo, Enricos und Lucias Bruder, verkündet, was Lucia getan hat, drängt sich der Chor auf der linken Bühnenseite zusammen, auf der rechten das Bett mit der abgedeckten Leiche. Die Erzählung der blutbefleckten Lucia wird mit Entsetzensbekundungen des Chors unterbrochen, zum Schluss zerbricht sie ihr Sektglas in Scherben. Der blutüberströmte getötete Bräutigam Arturo wird aus dem Bett in einen Sarg gelegt und von sechs Trägern von der Bühne getragen.

Nach seinem Trauergesang über Lucias Wahnsinnstod noch in derselben Nacht legt der betrogene Geliebte Edgardo seine schwarze Jacke ab, auch sein blütenweißes Hemd ist blutbefleckt, nachdem er sich aus Gram über ihren Tod erstochen und damit das Geschlecht der Ravenswoods ausgelöscht hat. Das Lamento des Chors über Lucias Tod wird vom Chor von den Rängen gesungen und bezieht so die Zuschauer*innen in die Trauer mit ein.

Es ist eine geniale optische und szenische Zuspitzung, der die Musik in nichts nachstand. Giuseppe Finzi mit den Essener Philharmonikern und dem von Jens Bingert einstudierten Essener Opernchor lieferte knackige Belcanto-Musik und bereitete für die virtuosen Arien der Protagonisten in ein komfortables orchestrales Klangbett.

„Lucia di Lammermoor“ ist seit der Premiere am 26.9.1835 ein Publikumsrenner, daher konnte man am 26. Februar 2022 für drei erkrankte Hauptdarsteller*innen adäquaten Ersatz finden. Die Essener Premiere dieser von der Semperoper Dresden übernommenen Produktion fand am 27. November 2021 statt.

Die Titelpartie wurde von Sophia Theodorides für die erkrankte Hilla Fahima koloraturstark und höhensicher, großen Vorbildern nicht nachstehend, gestaltet. Selbst in der Wahnsinns-Arie artikulierte und phrasierte sie makellos, der Irrsinn wurde von der Glasharmonika (Philip Maguirre) beigetragen.

Kongenial mit edlem Belcanto-Schmelz der italienische Tenor Oreste Cosimo, der für den erkrankten Carlos Cardoso als heißsporniger Edgardo einsprang. Er muss bei seiner Ankunft in dem ehemals seiner Familie gehörenden Schloss Ravenswood feststellen, dass seine Verlobte Lucia soeben mit Lord Arturo Bucklaw verheiratet wurde, und stellt Enrico mit Untermalung durch ein spektakuläres Gewitter zur Rede. Seine Arie „Tu che a Dio spiegasti l´ali“ ist ein würdiger Abgesang auf Lucia. Aus Gram über Lucias Tod bringt er sich schließlich um.

Aalto Theater Essen/LUCIA DI LAMMERMOOR/Ivan Krutikov , Carlos Cardoso /Foto: Matthias Jung

Herrlich skrupellos und in seiner massigen Bühnenpräsenz bedrohlich wirkte Ivan Krutikov als Lucias Bruder Enrico, der seine Schwester mit allen Mitteln in die Ehe mit dem eitlen, aber vermögenden Gecken Arturo Bucklaw drängt, um sich selbst vor dem Ruin zu retten. Er schreckt vor der Unterschlagung von Lucias Korrespondenz mit Edgardo und der Fälschung eines Briefs, der Edgardos Untreue behauptet, nicht zurück. Sein kräftiger Bariton läuft im Duett im Streit mit Edgardo im 5. Bild zu Hochform auf.

Das große Sextett „Chi mi frena in tal momento“ im 4. Bild, wenn Edgardo in Lucias Hochzeit mit Arturo platzt und sie der Untreue beschuldigt, ist wohl der dramatische Cliffhanger vor der Pause und wurde vom Publikum mit großem Beifall bedacht.

Seinen großen Auftritt hat Bassbariton Erik Roussi für Baurzhan Anderzhanov als Priester und Bruder Raimondo, der im 6. Bild der ausgelassen feiernden Hochzeitsgesellschaft die Schreckensnachricht von Lucias Bluttat überbringt, als sei er unmittelbarer Zeuge gewesen, und mit priesterlicher Heuchelei das Opfer beklagt. Übertroffen wird das jedoch von Lucia, die mit einem riesigen Blutfleck auf dem weißen Kleid in der „Wahnsinnarie“ alle Register zieht. Auch hier zweimal Szenenapplaus.

Luxuriös besetzt sind Arturo Bucklaw mit Dmitry Iwanchev, Normanno (Rainer Maria Röhr) und Alisa mit Bettina Ranch aus dem Ensemble des Aalto-Musiktheaters.

Dietrich Hilsdorf zeigt hier durch Fokussierung auf das Wesentliche des Konflikts, wie familiäre Machtstrukturen eine Frau zerbrechen, die ihren ungeliebten ihr aufgezwungenen Gatten und ihren zum ungünstigsten Zeitpunkt wieder aufgetauchten Geliebten mit in den Tod reißt. Bei den minutiös geplanten Chorszenen gibt Hilsdorf jeder einzelnen Person eine Rolle, Lucias verstorbene Mutter entsteigt dem Sarg und wird zu ihrer Vertrauten und Zofe Alisa, der Priester Raimondo zum zweiten Bruder und etwas skrupelbehafteten Komplizen Enricos.

Wieder einmal überzeugt das Aalto-Theater Essen mit einer musikalisch und szenisch herausragenden Produktion, die keine Wünsche offenlässt. Selbst die Gastronomie ist für Personen, die einen 3G-Nachweis präsentieren können, geöffnet, und das reich bebilderte Programmheft hat das Format DIN A6, so dass es in die Handtasche oder in die Brusttasche eines Anzugs passt.

 

  • Rezension von Ursula Hartlapp-Lindemeyer / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Aalto Theater Essen / Stückeseite
  • Titelfoto: Aalto Theater Essen/LUCIA DI LAMMERMOOR/Hila Fahima (Lucia Ashton), Opernchor des Aalto-Theaters
    Foto: Matthias Jung

 

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