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Opern-Kritik: Deutsche Oper Berlin – Antikrist

Die Welt aus den Fugen

(Berlin, 30.1.2021) Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag hat Rued Langgaards oratorische Oper „Antikrist“ bildgewaltig als Gesamtkunstwerk in Szene gesetzt.

vonRoberto Becker,

Ist das wirklich eine Oper? Wenn etwa ein Drittel davon ohne Worte aus- und geradezu sinfonisch daherkommt? Und wenn der Text auf religiös inspirierte Sentenzen beschränkt bleibt, die wie Zwischenüberschriften oder aus schwergewichtigen Texten herausgefischte Kombinationen dem Publikum im Saal vor die Füße geworfen werden, ohne dass die Akteure wirklich miteinander reden? Man wundert sich nicht, dass dieser „Antikrist“ in der dänischen Heimat des Komponisten Rued Langgaard (1893-1952) von den Opernhäusern immer wieder abgelehnt und erst in Österreich, in Innsbruck 1999, uraufgeführt wurde. In Deutschland dauerte es dann nochmal 19 Jahre, bis man sich in Mainz szenisch an den „Antikrist“ wagte. Ob nun wirklich die Bezeichnung „Oper in zwei Akten“ oder nicht doch eher die Umschreibung Oratorium oder Kirchenoper zutrifft, das ist auch nach der Premiere, die jetzt an der Deutschen Oper Berlin über die Bühne ging, nicht endgültig zu entscheiden.

Das ist Oper. Sogar große Oper.

Aber wenn geglückte Oper ein Gesamtkunstwerk ist, das Visualisierung von Musik in szenischer Form und die Erschaffung einer ganz eigenen Kunst-Welt einschließt, die auf eine verborgene Weise mit unserer tatsächlichen Welt zusammenhängt (und sei es, dass sie deren Erfahrungen radikal widerspricht), dann war das, was jetzt mit der mittlerweile üblichen Verspätung von anderthalb Jahren endlich Premiere hatte, Oper. Sogar große Oper. Ganz so wie sie in dieses Berliner Haus an der Bismarckstraße passt und (neben dem Wagner-Pflichtprogramm) auch mit Entdeckermut vor den Thronen einer eingefahrenen Publikumserwartung gepflegt wurde und wird.

Szenenbild aus „Antikrist“
Szenenbild aus „Antikrist“

Ästhetik aus einer Hand

Dass Ersan Mondtag im Moment hat, was man einen Lauf nennt, ist natürlich auch den diversen Premierenverschiebungen durch die Pandemiebekämpfung geschuldet. Sonst könnte er nicht in einer kurzen Folge diesen nahezu unbekannten, ziemlich skurrilen Blockbuster aus Dänemark, Webers „Freischütz“ (am 12. Februar in Kassel) und Marschners „Vampir“ (am 25. März in Hannover) stemmen. An Oper hat sich der bilderversessene Vieleskönner schon in Antwerpen versucht. Mit diesem „Antikrist“ in Berlin ist er tatsächlich sozusagen bei sich und dem Kern seines Könnens als Regisseur und Bühnenbildner. So viele, deren Ehrgeiz die Ästhetik aus einer Hand ist, gibt es gar nicht. Robert Wilson wäre einer, aber auch Herbert Fritsch und – wie gerade in Genf demonstriert — Ulrich Rasche.

Visuelles Gespür fürs Musikalische

Mondtags Gespür fürs Musikalische ist vor allem visuell, schließt die expressionistische Bühne ebenso ein wie die Figuren, die organisch daraus hervorzugehen scheinen oder auch die (sogar ganz vorklassisch) eingebauten Ballettsequenzen. Mit dem Choreographen Rob Fordeyn füllt er damit die ausgedehnten Orchesterpassagen, die der Sinfoniker Langgaard auch in seinem Bühnenwerk integriert hat.

Szenenbild aus „Antikrist“
Szenenbild aus „Antikrist“

Wütendes göttliches Strafgericht der Moderne

Der braucht anderthalb Stunden für seine Heimsuchung einer kaputten Welt in sechs Bildern nebst einem Prolog. Nimmt man das, was vom Text zumindest ansatzweise verständlich ist, dann ist es ein wütendes göttliches Strafgericht, das über eine vom Glauben abgefallene Moderne hereinbricht. Der Gehilfe dabei ist die Titelfigur der Oper: der Antikrist. Die von ihm auf die Menschen losgelassenen personifizierten Allegorien liefern den Kern der Protagonisten-, Tanz- und Chortableaus. Verteilt auf die Bilder, in denen der Antikrist sein Unwesen treiben lässt.

Nackter Menschensohn mit weiblichem Geschlechtsteil

Die fremd-vertraute Umgebung dafür ist ein großstädtischer Straßenzug, eine mit kräftigem und farbenfreudigem Pinselstrich gemalte Freude für jeden Expressionismus-Liebhaber. Hier gibt‘s aber weder ein Brücke, noch einen blauen Reiter. Dafür Monster aus den schlimmsten Horror-Alpträumen braver Christenmenschen, die die Hölle für einen Ort halten, vor dem man sich fürchten muss. Nicht mal das Geschlecht dieser Geschöpfe ist eindeutig und kann – mit einem Schnitt – kurzerhand verändert werden. Die Nachbildung eines nicht gekreuzigten, dafür gehängten nackten Menschensohnes mit weiblichem Geschlechtsteil hat man so auch noch nicht gesehen. Dessen Gesicht trägt die Züge der hier auf der Bühne als personifiziertes Gegenüber des Antikristen agierenden Stimme Gottes, die der Schauspieler Jonas Grundner-Culemann verkörpert. Am Anfang wie ein als Erwachsener Neugeborener, nackt, blutverschmiert und wacklig auf den Beinen. Dann in einem zum Antikristen komplementären, ans Triadische Ballett erinnernden Kostüm. Und am Ende, wenn diese Stimme Gottes dem Spuk ein Ende macht, wieder als unschuldsnackter, jetzt aufrecht gehender Menschensohn.

Szenenbild aus „Antikrist“
Szenenbild aus „Antikrist“

Alle treiben sie ihr alptraumhaftes Unwesen.

Zwischen diesem „Mein Wille geschehe“ des Antikristen und dem Alles auf Anfang am Ende treiben sie alle ihr alptraumhaftes Unwesen. In furchterregenden Kostümen und atemberaubender Stimmkraft. Die gibt Thomas Lehman als durchdringender Luzifer vor. Die Rätselstimmung und ihr Echo (Irene Roberts und Valeriia Savinskaia) folgen ebenso auf Augenhöhe, wie vor allem Flurina Stucki als große Hure und AJ Glueckert, der unter der Maske des Tiers in Scharlach ebenso wenig zu erkennen ist, wie Andrew Dickinson als Lüge und Jordan Shanahan als Hass. Auch Thomas Blondelle wäre unter der Maske des Mundes, der große Worte spricht, nicht zu erkennen gewesen — er bildete die Ausnahme und erinnerte so wie einige Darsteller mit eingefärbten und daher kaum sichtbaren Masken im Hintergrund an die Zeiten, denen eine solche Kunstanstrengung abgerungen wird. Er vertrat den vorgesehenen Clemens Bieber, der aus dem gleichen Grund ausgefallen war, der es Blondelle ermöglichte, von Amsterdam kommend einzuspringen. Dort hatte das Virus nämlich seinen König Herodes und alles drumherum gecancelt. Was der einen Leid ist der anderen Freud, ist man fast versucht zu sagen, wenn es nicht so nervig wäre.

Mit Lust schwelgendes Orchester

Auch wenn sich der Text – so wie er nun mal ist – nur ansatzweise erschließt, die Musik und die Umsetzung, die Ersan Mondtag, dem Ensemble und dem fabelhaft und mit Lust schwelgenden Orchester unter dem auch auf Transparenz bedachten Stephan Zilias am Pult des Orchesters der Deutschen Oper Berlin sorgten für einen großen Opernabend! Dass man neben musikalischer Beglückung auch eine Menge offene Fragen davon mitnimmt, ist ja nicht das schlechteste, was sich von Oper sagen lässt.

Deutsche Oper Berlin
Langgaard: Antikrist

Stephan Zilias  (Leitung), Ersan Mondtag  (Regie & Bühne), Annika Lu Hermann & Ersan Mondtag  (Kostüme), Rainer Casper  (Licht), Jeremy Bines (Chor), Rob Fordeyn (Choreographie), Lars Gebhardt (Dramaturgie), Thomas Lehman, Jonas Grundner-Culemann, Rachel Park, Irene Roberts, Thomas Blondelle, Anna Buslidze, Flurina Stucki, AJ Glueckert, Andrew Dickinson, Jordan Shanahan, Tänzer: Ulysse Zangs, Joel Donald Small, Sakura Inoue , György Jellinek, Derrick Amanatidis, Ashley Wright , Yuri Shimaoka, Juan Corres Benito, Ana Dordevic, Giorgia Bovo, Vasna Felicia Aguilar, Shih-Ping Lin, Chor der Deutschen Oper Berlin, Orchester der Deutschen Oper Berlin



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