Startseite » Oper » Opern-Kritiken » Unterwegs im Koffergebirge

Opern-Kritik: Deutsche Oper Berlin – Siegfried

Unterwegs im Koffergebirge

(Berlin, 12.11.2021) Mit dem nachgereichten „Siegfried“ ist Stefan Herheims und Donald Runnicles‘ neuer Nibelungen-„Ring“ an der Deutschen Oper nun komplett. Bühnenzauber und Bemühtes, Kluges und Kitschiges stehen in der szenischen Deutung durchweg unvereinbar nebeneinander.

vonJoachim Lange,

Es bleibt eine beachtliche Leistung der Deutschen Oper Berlin. Sie hat den ständig wechselnden, aber immer jeder Kunstproduktion gegenüber widrigen Bedingungen einen kompletten neuen Nibelungen-„Ring“ abgetrotzt! Samt der vom Publikum vor Ort verblüffend diszipliniert ertragenen, jetzt wieder eingeführten Maskenpflicht während der gesamten Vorstellung. Was bei den zeitlichen Dimensionen eine echte Herausforderung ist. Dieser Premieren-„Siegfried“ komplettiert gleichzeitig den ersten Aufführungszyklus. Den ewig laufenden „Tunnel-Ring“ von Götz Friedrich lösen Stefan Herheim und Donald Runnicles jetzt mit ihrem „Koffer-Ring“ ab, wie die berüchtigte Berliner Schnauze es wohl über kurz oder lang auf den Punkt bringen dürfte.

Stefan Herheims Quantum Schalk

„Siegfried“ an der Deutschen Oper Berlin: Clay Hilley (Siegfried)
„Siegfried“ an der Deutschen Oper Berlin: Clay Hilley (Siegfried)

Die durchgeschüttelte Reihenfolge macht ein Resümee des Ganzen zwar etwas kompliziert, erlaubt es aber auch, den „Siegfried“ für sich zu nehmen. Die Anknüpfung an „Rheingold“ und „Walküre“ und die Verweise auf die „Götterdämmerung“ sind ohnehin unübersehbar. Und natürlich unüberhörbar. Nina Stemme als Brünnhilde ist im Koffergebirge selbst der vokale Felsen, auf den jeder Jung-Siegfried bauen kann. Leuchtkraft und Erfahrung, darstellerische Intensität – die Schwedin kann es einfach. Und sie liefert die Ausstrahlung der außergewöhnlichen Felsenmaid, ganz gleich was für ein Getümmel die Regie zu ihren Füssen veranstalten lässt. Und auch Clay Hilley ist der pure Siegfried-Genuss, vor allem wenn er loslegen kann und nicht allzu sehr im Piano ausgebremst ist. Es gehört zum Quantum Schalk, das Stefan Herheim ja auch immer mitliefert, wenn sich der beleibte, gleichwohl bewegliche Amerikaner mitunter selbst auf die Schippe nimmt und zusammen mit seiner Brünnhilde auf dem Konzertflügel die Geste eines Heldentenors von anno dazumal gleichzeitig abliefert und parodiert. Manchmal sind die Lacher auch Gratiszugaben (siehe: „das ist kein Mann“, denn es ist eine Frau, die Siegfried da erweckt). Iain Paterson ist ein Wanderer der alten Garde. Er vermittelt wohltimbrierte, reflektierte Überlegenheit, behält auch vokal die Oberhand. Es sei denn, Donald Runnicles will mal – wie zu Beginn der dritten Aufzuges wenn er Erda aufweckt – von seinem detailreich spielenden Orchester zugleich den Maschinenraum der Bühnengebirgsapparatur imaginieren lassen.

Mime in der KZ-Sträflingsjacke? Das Politische am Herheim-„Ring“ bleibt auch im „Siegfried“ letztlich mehr Staffage

„Siegfried“ an der Deutschen Oper Berlin: Ya-Chung Huang (Mime)
„Siegfried“ an der Deutschen Oper Berlin: Ya-Chung Huang (Mime)

Da hat Paterson dann mal schlechte Karten, den immer noch herrschenden Gott herauszukehren, wie noch bei der Wissenswette mit Mime. Vielleicht zankt er deshalb nicht nur wie üblich mit Erda, als wäre sie nicht der Seitensprung von früher, sondern seine Ehefrau, sondern bringt sie gleich um. Ein Tabubruch, der das Ende, das er vielleicht ja doch nicht so entschieden will, wie er es verkündet, unumkehrbar machen soll? Immerhin waren gerade genügend Zeugen vor Ort, die das – maßvoll schockiert – miterlebten. Könnte sein, könnte aber auch nur eine zusätzliche Pointe sein, die das Inszenierungsteam im Text beim Stichwort „Ende“ aufblitzen sah. Judit Kutasi kommt als Erda zwar als Hausmütterchen verkleidet, orgelt ihre Weltverzweiflung aber göttlich. Neben dem oft präsenten und das Geschehen beobachtenden Alberich (als Wotan-Gegenüber eindrucksvoll: Jordan Shanahan) und Tobias Kehrers sonorem Fafner, ist vor allem Ya-Chung Huang als Mime eine darstellerische Klasse für sich. Flink und wendig gibt er den eloquenten, aber erfolglosen Manipulator Siegfrieds. Dass er mit dem berühmten Wagner-Barrett auf den Erfinder der Figur anspielt ist das eine. Dass die KZ-Sträflingsjacke auch noch an die Frage erinnert, ob da von Wagner ein antisemitisches Klischee im Stück eingebaut wurde und was das alles für Folgen gehabt haben könnte, ist dann doch wieder ein Tick zu viel. Das Politische am Herheim-„Ring“ bleibt auch im „Siegfried“ letztlich mehr Staffage. Also die Sache der Statisten, die sich auf ihrer Wanderschaft durch die Zeit immer mal wieder im Stück verirren und auf das reagieren, was sie da geboten bekommen.

Wagners erotische Gesellschaft liebt sich heute politisch korrekt auch gleichgeschlechtlich

„Siegfried“ an der Deutschen Oper Berlin: Clay Hilley (Siegfried) & Waldvogel
„Siegfried“ an der Deutschen Oper Berlin: Clay Hilley (Siegfried) & Waldvogel

Der Höhepunkt ist das große Schlussduett von Siegfried und Brünnhilde, wenn die Leidenschaft durchbricht und in aller Ausführlichkeit und mit gewaltigem Stimm- und Orchesteraufwand an diesem exemplarischen Beispiel zelebriert wird. Hier verstehen sie es alle als Aufforderung, sich die Kleider vom Leib zu reißen und in Unterwäsche übereinander herzufallen. Natürlich – politisch korrekt – auch in gleichgeschlechtlichen Varianten. Diese Menschen (als Zeugen und Akteure auf der Flucht oder auf Zeitreise, beim Selbsterfahrungstripp oder als Kämpfer gegen den Horror vacui oder was auch immer) sind das eine. Der direkte Griff der Akteure zur Partitur als Verweis darauf, dass gerade Theater gespielt wird (was ja dann in der „Götterdämmerung“ das Foyer der Deutschen Oper zum Teil der Bühne werden lässt) das andere. Dazu kommt mit dem Konzertflügel das zentrale Instrument, aus dem man kommen und in dem man verschwinden kann, bei dem sich aber auch in die Tasten hauen lässt. Die Kofferlandschaft kann – technisch imponierend – im Handumdrehen zur Schmiede, zur Mimehütte (er ist offensichtlich ein Fachmann für Blechblasinstrumente) oder im Ganzen zum Riesenwurm werden. Bei diesem XXL-Ungetüm geht dann vollends der Wundertüten-Ehrgeiz mit Herheim durch. Immerhin: der Effekt ist gewaltig.

Hier und da ein ein tiefer Griff in die Kiste mit dem Kitsch

Wenn es technisch funktioniert, dann gilt das auch für das Spiel mit den weißen Tüchern. Wenn Siegfried sein Wunder-Schwert geschmiedet hat, dann wird hinter ihm gleich die ganze Welt von oben (mit dem Kap der Guten Hoffnung im Zentrum) projiziert. Bei den Flammen des Brünnhildenfelsens klappt es nicht so ganz – aber so ist das halt mit dem Bühnenzauber. Macht der ungewöhnliche, aber von Wagner selbst gewünschte Einsatz des Knabensoprans (ohne Verstärkung durchdringend: Sebastian Scherer vom Knabenchor der Chorakademie Dortmund) als Waldvogel psychologisch nachvollziehbar Sinn, bleibt die Erscheinung von Siegfrieds Eltern als
weißgefederte Engel ein tiefer Griff in die Kiste mit dem Kitsch. Man erkennt die szenischen Leitmotive, sie liefern die Bausteine, die immer wieder durch Spielwitz im Detail neu zusammengeführt werden, man staunt über den Mut zum großen Effekt und freut sich mit, wenn er funktioniert. Und dennoch unterläuft gerade die immer wieder deutlich durchscheinende Erkennbarkeit des Bauplans, den Theaterzauber, den er eigentlich liefern soll. Das Inszenierungsteam ließ sich beim Schlussapplaus nicht blicken. Sie werden doch nicht alle in eine Spalte des Koffergebirges gefallen sein?

Deutsche Oper Berlin
Richard Wagner: Siegfried

Sir Donald Runnicles (Leitung), Stefan Herheim (Regie & Bühne), Silke Bauer (Bühne), Uta Heiseke (Kostüme), Torge Møller (Video), Ulrich Niepel (Licht), Alexander Meier-Dörzenbach & Jörg Königsdorf (Dramaturgie), Clay Hilley, Ya-Chung Huang, Iain Paterson, Jordan Shanahan, Tobias Kehrer, Judit Kutasi, Nina Stemme, Sebastian Scherer, Orchester der Deutschen Oper Berlin

Auch interessant

Rezensionen

Newsletter

Jeden Donnerstag in Ihrem Postfach: frische Klassik!