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Irrwitzige Erfurter Musikfolter: Philip Glass’ „In der Strafkolonie“ in der Studio.Box

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Die an diesem Wochenende herausgekommenen Produktionen von Glass „In the Penal Colony“ in der Studio.Box des Theaters Erfurt und am Theater Augsburg sind pandemiebedingte Nachzügler einer Akkumulation der beeindruckenden Kafka-Oper von Philip Glass (seit Herbst 2019 in Hof, Ulm und Gera). Mila van Daags Raumbühne und Chanmin Chungs im Wortsinn bedrückende Leistung mit dem Streichquintett aus dem Philharmonischen Orchester Erfurt ergaben ein faszinierend kaltes bis grausames Ambiente.

Die Partitur der in Seattle 2000 uraufgeführten Partitur ist selbst Ausstattungsmaterial in der Erfurter Neuinszenierung. Das Publikum sieht sie an den Wänden des schwarzen Studiotheaters – versehen mit der Quellenangabe „Notizen des Alten Kommandanten“. Wie ein stummer Chor folgen die Zuschauer dem Darsteller des Besuchers in das Tötungslabor von Kafkas fiktivem Staatswesen, in dem ein neuer Kommandant Revisionen will und trotzdem die nützlichen Unterdrückungsstrategien seines Vorgängers verfeinert. Ein Mischpult dient der Dosierung jener tödlichen Stromstöße und Injektionen, die mittels Kabeln, Fuß-, Hand- und Kopffesseln in die Verurteilten gepumpt werden. Kafka penibler Text über die Schneidvorrichtungen, mit denen der Offizier das langsame Verbluten der Hinzurichtenden beschreibt, verliert trotzdem nichts an enervierender Spannung.

Als hier endlich einmal nicht junger Gefangener modelliert Wolfgang Kaiser mit eindrucksvoller Plastizität alle Schattierungen von Angst bis Entsetzen. Dem abgestumpften Soldaten (Marvin Zeumer) zaubert nur die in Bewegung gesetzte Todesapparatur ein kurzes Lächeln ins dumpfe Gesicht. Solche aufmerksam erarbeiteten Details vergröbert der Regisseur Cristiano Fioravanti später mit einem ganzen Statisten-Rudel. Dieses zwingt als Passanten Säuglinge zum Blick auf eine Hinrichtung und erscheint als Ku-Klux-Clan mit weißen Kapuzen.

Das ist schade, denn Fioravanti verfällt in den gleichen Fehler wie das mitunter zu großspurige Hollywood, wenn es faszinierende Raum- und Situationswirkungen durch Personen- und Materialschlachten zunichte macht. Die Todeszelle hat eine funktionale Kälte, gegen die heimelige Accessoires wie eine kitschige Heilandfigur und eine Alabastertänzerin nichts auszurichten vermögen. Die silbernen Wände werfen Reflexe. Aberwitzig wirken die Überwachungsmonitore und deren Zeitangabe – Jahr 2016. Das Entsetzen, die Angst, die Beklemmung werden in diesem Laboratorium mit weißen Schergen und Erfüllungsgehilfen zeitlos und unendlich. Auch blonde dienstbeflissene Frauen schieben Dienst mit Gleichmut im Blick und dünnen Lippen.

Aber am schrecklichsten ist in dieser Raumbühne die Musik. Die fünf Solostreicher und Dirigent Chanmin Chung sind aktiver Mitspieler bei den operativen Tötungsvorgängen: Sie sitzen – wie die Diensteinheit in weißen Overalls, mit denen die Macht sich in kaltem Glanz präsentiert – auf der Todeszelle hoch über Spielern und Beobachtern. Glass' repetierende Klang-Wellenbänder fallen mit bohrender Dichte und Stärke herab – sie rieseln, tröpfeln, drücken und lasten mit Bleigewichten. Immer wieder scheinen die Töne in Stillstand zu kommen. Chanmin Chung dirigiert gnadenlos, treibt Glass das sphärische Fließen aus und macht die Oper so zur legitim anstrengenden Kammersinfonie mit obligaten Männerstimmen. Glass als Endlostunnel ohne Licht. So gerät die Aufführung zum Plädoyer für mehr gestaltende Vielfalt im Umgang mit Minimalmusic. Erstaunlich ist, dass Chanmin Chung nicht langsamer wird und die Oper im 75-Minuten-Rahmen bleibt wie Interpretationen, die eher die dynamische Konversation über den Streicherstimmen akzentuieren.

Zu dieser echt krassen Erfurter Musikfolter bewegen sich der Offizier und der Besucher mitten im Publikum. Die ausgezeichnete Akustik legt auch die sonst gut verborgenen Anforderungen Glass’ an seine Sänger frei, weil diese im homogenen Musikfluss sonst kaum auffallen. Das Publikum kann, sofern es um die Absperrbarrieren der Wachmannschaft in der Erfurter Strafkolonie herumkommt, in direkter 1,50 m-Nähe zu den Sängern sein.

Fioravanti macht den Besucher zu einem korrekten Jungfunktionär, dessen korrekte Attitüde kaum durch die ihm mitgeteilten Grausamkeiten in Erschütterung gerät. Brett Sprague hat die emotionale Regsamkeit eines Flugstewards bei der Getränkeausgabe und singt den vieldeutigen Part mit blendender Glätte. Fioravanti übertrug also das gesamte Emotionen-Reservoir des Abends dem Offizier. Yohan Kim singt dessen Verehrung für den alten Kommandanten als sinnlich-emphatisches Dauerleuchten. Durch solch sinnlichen Dienstübereifer wird die Figur im zweiten Teil etwas flach. Das experimentelle Opfer des Offiziers und dessen unerwartet tödlicher Ausgang verlieren ihre sonst überwältigende Ambivalenz. Deshalb hält das Ende der Aufführung den zu Beginn erzeugten Riesenerwartungen leider nicht ganz stand. Trotzdem: Die Raumbühne und die schier böswillige Opulenz der instrumentalen Gestaltung machen diese Studio-Produktion zum packenden Theaterereignis.

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