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Opern-Kritik: Theater Bonn – Leonore 40/45

Im Zirkus des Krieges

(Bonn, 10.10.2021) Erstaunlich aktuelle Fraternisierungsoper: Regisseur Jürgen R. Weber und Dirigent Daniel Johannes Mayr stellen Rolf Liebermanns Opera semiseria nach 62 Jahren erneut auf den Prüfstand – und beweisen ihre erschreckende Wirkungsmacht.

vonAndré Sperber,

Direkt nach dem Ende des zweiten Weltkriegs wirkte der Wunsch einer länderübergreifenden Freundschaft zwischen Deutschland und Frankreich wie reiner Idealismus. So spiegelte es sich auch im damaligen Opernpublikum wider: Während Rolf Liebermanns Fraternisierungsdrama „Leonore 40/45“ bei der Uraufführung 1952 in der außenpolitisch stets neutral verbliebenen Schweiz für Begeisterung sorgte, endete jede Aufführung in Deutschland in einem Desaster. Die Geschichte eines jungen Wehrmachtssoldaten und einer Französin, die sich mit ihrer Liebe zueinander über Kriege und Grenzen hinwegsetzen – dafür war das Publikum in Nachkriegsdeutschland noch nicht bereit, die Wunden waren zu frisch. Nach mehreren gescheiterten Anläufen erlebte das Werk 1959 seine letzte Neuproduktion und verschwand schließlich von den Opernbühnen – bis jetzt.

Regisseur Jürgen R. Weber, der in den vergangenen Jahren am Theater Bonn schon mehrfach vergessene Schätze des 20. Jahrhunderts aus der Versenkung emporholte, hat den Schritt gewagt und stellt das Werk mit seiner Neuinszenierung von „Leonore 40/45“ nach 62 Jahren erstmals wieder auf den Prüfstand.

Szenenbild aus „Leonore 40/45“
Szenenbild aus „Leonore 40/45“

Erschreckende Komik

Der Umgang mit dem historischen Kontext, der dem von Librettist Heinrich Strobel verfassten Geschehen zugrunde liegt, nimmt schnell eindeutige Form an: Auf einem überdimensionalen Bilderrahmen, der, oben rechts über der Bühne angebracht für Projektionen als Leinwand dient, erscheint eine Art Vorspann, der in altmodischer Zeichentrickmanier an den Beginn eines Looney-Toons-Cartoons erinnert. Doch es ist nicht Bugs Bunny, dessen Kopf in der Mitte der kreisförmigen Illustration erscheint: Es ist zunächst Beethoven – und dann Hitler. Beides Figuren, die das gesamte Stück durchziehen sollen.

„Circus Hitler – Welttournee“ strahlt es in bunt leuchtenden Lettern von oben herab. Weber gelingt in den zwei Akten plus Prolog eine einmalige Vermischung aus realem Schrecken und dessen Verzerrung ins Komische, geradezu Lächerliche, ohne dabei jedoch verharmlosend zu sein. Im Gegenteil: Originalaufnahmen von Bombenangriffen, bei denen rote Luftballons durchs Bild fliegen – derartige Kontrastierungen eröffnen den Blick für den Wahnsinn, der dahintersteckt. Der Nationalsozialismus, der Krieg – eigentlich alles ein großer Zirkus, doch leider bittere Realität.

Szenenbild aus „Leonore 40/45“
Szenenbild aus „Leonore 40/45“

Schießbudenfiguren und verpönte Zwölftonmusik

Auch in der Ausstattung von Hank Irwin Kittel nimmt das zirkusartige bei zeitlichem Fortschreiten des Krieges überhand. Einer der bühnentechnischen Höhepunkte ist sicher das Auftauchen der mehrere Meter großen Köpfe von Churchill und Hitler, die mit offenen Mäulern wie Schießbudenfiguren auf dem Rummelplatz mit Bällen beworfen werden. Man weiß nicht, ob man lachen oder weinen darf. Die mit Wehrmachtsuniformen und Kleidung der 40er Jahre realistisch gehaltenen Kostüme der Akteure stehen dazu in Kontrast.

Die durchaus gut hörbare Zwölftonmusik des Schweizers Rolf Liebermann ist untermalend, unterhaltend und atmosphärisch sehr dicht. Das zur Nazi-Zeit verpönte Kompositionsverfahren wird bei einer Pariser Konzertszene im Stück offen thematisiert und bildet das verbindende Element zwischen dem Liebespaar Albert und Yvette, die mit dem hochgreifenden Tenor Santiago Sánchez und der durchdringenden Sopranistin Barbara Senator hervorragend besetzt sind. Heimlicher Publikumsliebling ist sicher der im schwarzen Frack mit erstaunlich agilen Flügeln durch das Stück führende – und es letztlich zum triumphal aufgeblasenen Happy End bringende – Friedensengel Monsieur Emile, gesanglich wie schauspielerisch stark verkörpert von Bariton Joachim Goltz.

Szenenbild aus „Leonore 40/45“
Szenenbild aus „Leonore 40/45“

Beethoven als Fahnenträger

Daniel Johannes Mayr dirigiert das auch in diesem Metier kompetente Beethoven Orchester Bonn (und den Chor des Theaters) nicht wie üblich im Orchestergraben, sondern aus dem Hinterbühnenbereich heraus. Der schneidig geschliffene Klang von Liebermanns Musik, die zur Verdeutlichung der traditionalistischen Bezüge von allerlei Beethoven-, Wagner- und Liszt-Zitaten durchzogen ist, kommt dennoch mit Wucht im Zuschauerraum an.

Der offensichtliche Beethoven-Bezug, der ja schon im Titel von „Leonore 40/45“ erkennbar und auch musikalisch eingewebt ist, wird von Regisseur Weber auch bildlich auf die Spitze getrieben: Dass die deutsche Nation von drei offensichtlichen Beethoven-Kopien verkörpert wird, die mit Hakenkreuzbinde und -flagge ausgestattet den Kampf mit der französischen Symbolfigur Marianne aufnehmen, wirkt im ersten Moment provokativ, verdeutlicht jedoch lediglich die Instrumentalisierung von Kunst und Kultur, die zugunsten einer fatalen Ideologie missbraucht werden.

Szenenbild aus „Leonore 40/45“
Szenenbild aus „Leonore 40/45“

In der echten Welt gibt es keinen Friedensengel

Liebermanns Bezeichnung seines Werks als „Opera semiseria“ wird von Weber sehr überzeugend übersetzt. Es wäre vieles zum Lachen, wenn es nicht alles so traurig wahrhaftig wäre. Der Prozess vom Zirkus des Krieges bis zur Zaubershow der Entnazifizierung ist ein mühsamer. Hitler – in einer Andeutung als böswilliger Clown à la Stephen King – verliert durch diese Darstellung keinesfalls an Schrecken, wohl aber an Mystifikation. Und mittendrin das Liebespaar, das alle Menschen ungeachtet ihrer Herkunft als gleichwertig betrachtet und über sämtliche Grenzen hinwegsieht. Doch so etwas passt nicht in diese Welt. Und man hätte sie ausgeschlossen, wäre da nicht der Friedensengel, der die Menschen zur Vernunft bringt. In der echten Welt gibt es diesen Friedensengel nicht, hier bleibt die Gesellschaft selbst verantwortlich. Doch zumindest scheinen wir heute bereit, Liebermanns wertvolle, erschreckenderweise noch immer erstaunlich aktuelle Fraternisierungsoper anzunehmen – es wäre verheerend, wenn nicht.

Theater Bonn
Liebermann: Leonore 40/45

Daniel Johannes Mayr (Leitung), Jürgen R. Weber (Regie), Hank Irwin Kittel (Ausstattung), Friedel Grass (Licht), Gretchen fan Weber (Video), Marco Medved (Choreinstudierung), Barbara Senator, Susanne Blattert, Santiago Sánchez, Pavel Kuinov, Martin Tzonev, Joachim Goltz, Katrin Stösel, Christian Specht, Jeongmyeong Lee, Michael Krinner, Takahiro Namiki, Justo Rodriguez, Enrico Döring, Chor des Theater Bonn, Beethoven Orchester Bonn

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