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Still aus Die ersten Menschen in der ARTE Mediathek.
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Amsterdams Nederlandse Opera wagt Rudi Stephans „Die ersten Menschen“

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Wie vieles andere hat auch die Kunst durch das Gute Bestand und dann Wert durch das Außergewöhnliche. Das gilt explizit für den 1915 mit 28 Jahren durch den Ersten Weltkrieg ums Leben gekommenen Rudi Stephan und seine Kompositionen. Seine einzige Oper wurde erst fünf Jahre nach seinem Tod uraufgeführt und gilt seither als „schwierige Rarität“. In der arte-Mediathek ist diese Besonderheit des Repertoires nun in der neuen Amsterdamer Inszenierung greifbar.

Erstaunlich: Stephans Libretto-Wahl. Denn Otto Borngräbers „Erotisches Mysterium“ von 1908 oszilliert zwischen Erhabenem und Banalem, durchwebt die alttestamentarische Geschichte um Adam, Eva, Kain und Abel nach ihrer Vertreibung aus dem Garten Eden mit Friedensphilosophischem und einem Frauenbild von „1900“. Die Erotik ist derart mit freudianischen Verstrickungen aufgeladen, dass das Drama 1912 in Bayern verboten wurde – doch da hatte Stephan es längst vertont.

Erstaunlich: Stephans singuläre Tonsprache. Nach einer sanften Einleitung durch das Englischhorn und ein paar tonal freien Phrasen türmt er dann für ein spätromantisches Riesenorchester in gut anderthalb Stunden einen orgiastischen Höhepunkt auf den anderen – Skrjabins in etwa gleichzeitig entstandenes „Poème de l’extase“ wirkt da wie ein Häppchen. Völlig zutreffend hat die Amsterdamer Oper für diese herausfordernde Opulenz das benachbarte Royal Concertgebouw Orchestra ins Haus gebeten und so toste es unter François-Xavier Roths Leitung rauschhaft und fulminant und singulär.

Erstaunlich: die Wahl von Regisseur Calixto Bieito. Denn schon Borngräber formuliert Evas sexuelle Frustration angesichts Adams Hinwendung zur Erderoberung, zeigt Kains sexuelles Erwachen und Begehren der schönen Mutter Eva, führt Abel als frommen Gottesdiener vor, der Kains Begehren verurteilt und deshalb erschlagen wird – wenn man all das Bieito in die Hände gibt, bleibt Rebecca Ringsts Szenerie bedeutungslos und Bieito arbeitet all seine Leiden ab: spanischer Katholizismus, Missbrauch in kirchlicher Jugendzeit, Kampf gegen sexuelle Tabus, Faszination für die Mischung von Sex und Gewalt. Dass Erotik auch Spiel, Leichtigkeit und Zartheit beinhaltet – nichts davon und auch nichts von „Mysterium“. Prompt kommt eine krude, allzu handfeste Sex-Szenerei heraus. Dabei erzählt die Musik alles – der Bieito sichtbar nicht vertraut.

Erstaunlich: die Solisten. Anette Daschs Eva hat anfangs mit den ekstatisch hohen Ausbrüchen zu kämpfen, diese Schärfen verklingen im zweiten Teil dann in üppiger Sopran-Schönheit, gepaart mit der Bühnenerscheinung des „schönen Weibes“. Kyle Ketelsens Adam bringt zur Figur eines späteren Welt-CEO einen herrlich strömenden Bass-Bariton mit – der bis nach Bayreuth zu hören sein sollte. Für die qualvoll-selbstquälerischen Regungen, Windungen und Verbiegungen erwachender Sexualität bis hin zur gewalttätigen Entladung besitzt Leigh Melrose die passend „unsympathische“ Erscheinung und einen kantigen Bariton – ein perfekter Kontrast zum tenorhellen Glanz von John Osborns Abel.

Insgesamt: ein in Inhalt und Text gerade für Hier und Heute schwieriges Werk – aber was für eine atemverschlagende, überbordende, wahrlich ekstatische Musik! Singulär „wertvoll“.

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