Tiroler Festspiele Erl: Der König ist gestürzt, es leben die Königskinder

Die Festspiele in Erl proben den Neubeginn. Der erfolgreiche Frankfurter Opernintendant Bernd Loebe muss das Festival nach der Trennung von Gustav Kuhn neu aufbauen. Und kämpft mit vielen Widerständen.

Michael Stallknecht, Erl
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Alles so richtig schön schäbig hier: Der Regisseur Matthew Wild versetzt Engelbert Humperdincks «Königskinder» in eine Atmosphäre solider Hoffnungslosigkeit.

Alles so richtig schön schäbig hier: Der Regisseur Matthew Wild versetzt Engelbert Humperdincks «Königskinder» in eine Atmosphäre solider Hoffnungslosigkeit.

Tiroler Festspiele Erl / Xiomara Bender

Eingeschlossen von satt bewaldeten Bergen, ist Erl fraglos ein besonders idyllisches Dorf in Tirol. Einen Bahnhof gibt es nicht, wohl aber zwei grosse Festspielhäuser. Das erste ist das Passionsspielhaus, in dem die Erler alle sechs Jahre das Leiden und Sterben Christi nachspielen. Direkt daneben hat 2012 der Grossbauunternehmer Hans Peter Haselsteiner ein zweites, so futuristisches wie sich in die Landschaft einfügendes gestellt, für den von ihm geförderten Dirigenten Gustav Kuhn.

In gut zwanzig Jahren hatte Kuhn hier die Tiroler Festspiele aufgebaut, die ihn, vor allem mit den Werken Richard Wagners, zum musikalischen König der Region mit überregionaler Beachtung werden liessen. Doch im Zuge der #MeToo-Bewegung geriet der König ins Straucheln und wurde 2018 gestürzt. Autoritäres Gebaren, sexuelle Übergriffigkeit gegenüber Sängerinnen, dazu die schlechte Bezahlung der vor allem aus Osteuropa anreisenden Orchestermusiker wurden Kuhn vorgeworfen.

Am Ende konnte zwar die zuständige Staatsanwaltschaft in Innsbruck nichts strafrechtlich Relevantes finden. Doch Kuhn, von der Politik nach langem Zögern fallengelassen, war da längst zurückgetreten, während das auf ihn zugeschnittene Unternehmen zu zerbrechen drohte.

«Ich kann das hinkriegen»

Rettung in der Not kam aus Frankfurt, wo Bernd Loebe seit knapp zwanzig Jahren die Oper leitet und als einer der erfolg- wie einflussreichsten Intendanten im deutschsprachigen Raum gilt. Nötig hätte er es also kaum gehabt, nebenher auch noch die Tiroler Festspiele Erl zu übernehmen. Doch ihn reizte «gerade das Wahnsinnige» an dem neuen Job, wie er im Gespräch sagt: «Ich glaubte einfach: Ich kann das hinkriegen.»

Die einfachsten Bedingungen hatte er dabei in den zwei Jahren seit der Übernahme nicht. Nur einmal konnte er bisher die traditionell kürzeren Winterfestspiele durchführen, der grosse Rest fiel den Corona-Massnahmen zum Opfer. Doch seit eineinhalb Wochen kann in Österreich wieder vor komplett vollen Häusern gespielt werden. Die Besucher müssen nicht einmal Maske tragen, sofern sie geimpft oder frisch getestet erscheinen.

Der soeben eröffnete, gut dreiwöchige Festspielsommer in Erl ist damit der erste, in dem Loebe zeigen muss, ob sein Konzept aufgeht: ein neues Publikum anzuziehen und gleichzeitig das alte möglichst nicht zu verprellen. Der selbst als Regisseur wie Dirigent tätige Kuhn hatte mit seiner Regietheaterskepsis auch viele Traditionalisten nach Erl gelockt. Loebe dagegen gilt in Frankfurt durchaus als Mann eines innovativen, bildmächtigen Theaters wie eines erweiterten Stückekanons.

Königssohn und Gänsemagd

In Erl will er nun «nicht gleich alles auf den Kopf stellen», sondern «die Transformation behutsam angehen». Den Schwerpunkt auf Wagner wie den bereits etablierten zweiten mit italienischem Belcanto wird er weiterführen und beginnt deshalb in diesem Sommer mit dem «Rheingold» einen neuen, bis 2023 geplanten «Ring des Nibelungen». Daneben möchte er aber die Linien weiter zu weniger gespielten Opern ausziehen, die der unvermeidliche Wagner mitgeprägt hat.

Wie die «Königskinder» von Engelbert Humperdinck, die Matthew Wild auf die Bühne des Festspielhauses bringt. Der südafrikanische Regisseur lässt den ersten und dritten Akt in einem kaputten Campingwagen am Waldrand spielen, den zweiten in einem charmebefreiten Dorf der Gegenwart. Die Grobheit, mit der das aus märchenhafter Ferne kommende Traumpaar aus einem Königssohn und einer Gänsemagd hier von Durchschnittsmenschen vertrieben wird, geht in dem Setting perfekt auf. Doch Wild bricht den verrätselten Symbolismus des Librettos nicht herunter, sondern erzählt ihn deutungsoffen, vor allem über eine handwerklich brillante Personenregie.

Das kann man leider nicht unbedingt behaupten von der Eröffnung des neuen «Rings», den Loebe publikumswirksam Brigitte Fassbaender anvertraut hat. Obwohl die ehemalige Starmezzosopranistin schon lange Regie führt, bleibt ihre Inszenierung des «Rheingolds» in den wenigen Bühnenversatzstücken und den abgeschmackten Retrokostümen von Kaspar Glarner so deutungs- wie glanzlos.

Im Herzen von Europa

Dafür wird auf der Bühne des Passionsspielhauses überdurchschnittlich gut gesungen, und das, obwohl es sich bei fast allen Rollen um Debüts vorwiegend junger, noch bezahlbarer Sänger handelt. Mit einem Budget von sieben Millionen Euro im Jahr – die Hälfte davon von Haselsteiner, die andere Hälfte vom Staat Österreich und vom Bundesland Tirol – kann Loebe, der gleichzeitig auch Geschäftsführer ist, keine riesigen Sprünge machen. Auch das Orchester dürfte er kaum besser bezahlen als Kuhn, auch wenn er das nicht direkt zugibt. Aber er versichert, sich bei der Probenpraxis stärker an den gewerkschaftlichen Gepflogenheiten im deutschsprachigen Raum zu orientieren.

Warum diese aus 14 Nationen zusammenkommende Truppe schon lange als Säule der Festspiele gilt, kann man im «Rheingold» durchaus hören. Unter Leitung des erfahrenen Eric Nielsen klingt Wagner farbenreich, trennscharf und klar, auch wenn der Dirigent noch entschiedenere Eigenakzente im orchestralen Bereich setzen könnte. Dafür gewinnen die vor dem Orchester agierenden Sänger Raum, in der hervorragenden Akustik absolut textverständlich zu singen. Craig Colclough lässt Alberich bei aller Machtbesessenheit geradezu zur tragischen Figur werden, und der junge Ian Koziara erkundet mit hellem, aber farbenreichem Tenor und einer Wagner-unüblichen Legatokultur neben der Intriganz auch die Ungebundenheit des Feuergottes.

Bernd Loebe gilt als Intendant mit ausgesprochenem Sinn und Geschmack für Gesang, auch als echter Talentscout für junge Stimmen. Viele davon hat er nun von Frankfurt mit nach Erl gebracht, wo das sängerische Niveau mit dem internationaler Festspiele fraglos mithalten kann. So sind in den «Königskindern» die drei anspruchsvollen Führungsrollen mit dem Tenor Gerard Schneider als naivem, dabei jugendlich emphatischem Königssohn, mit dem reich in sich schillernden Sopran von Karen Vuong als Gänsemagd und dem grossen, runden, in sich ausgewogenen Bariton des jungen Iain MacNeill als Spielmann wirklich glänzend besetzt.

Loebe hofft, dass dies auch die Politik aufhorchen lässt und ihm finanziell bald grössere Freiheiten für eine Neupositionierung der Tiroler Festspiele gibt. «Erl kann wie ein Tal der Vergessenen wirken», sagt er, «aber es liegt eigentlich im Herzen von Europa» – zwischen Festspielstädten wie Salzburg und Innsbruck.

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