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Humperdincks „Königskinder“ in Erl: Karen Vuong und Gerard Schneider. Foto: Xiomara Bender
Humperdincks „Königskinder“ in Erl: Karen Vuong und Gerard Schneider. Foto: Xiomara Bender
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Vom Elend aller Ungleichheit I – Die Festspiele Erl eröffnen mit Engelbert Humperdincks „Königskinder“

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Das gibt es tatsächlich wieder: Eine Landesregierung erkennt, dass die Kultur ein zentraler Faktor in und für die Region ist. Also richtet die für Erl zuständige Behörde eine eigene Station ein – und impft das gesamte Personal der Festspiele: alle können arbeiten und proben und sich umarmen. Dann kommt die staatliche Erlaubnis für geimpfte oder getestete Besucher, auf dem gesamten Festspielgelände maskenfrei ohne Platzbeschränkung… ein Erlebnis – Theater wieder wie „damals“… gibt es da noch etwas zu kritisieren?

Fast eine Quizfrage: Welches Musikdrama erhebt sich im 3.Akt aus aller etwas überlebten „Tümlichkeit“? Ja, Der lange „Wagner-dominierte“ Engelbert Humperdinck hat sich 1910 für den Auftrag der New Yorker Metropolitan Opera aus aller „Hänsel&Gretel-Märchenseligkeit“ gelöst. Da ist zwar der Stoff um die Gänsemagd und den Königssohn: er verliebt sich in sie und löst sie aus aller Hexen-Dominanz; er will vor seinem Königtum alle Realität kennenlernen und nimmt den Dienst als Schweinehirt in der „Hellastadt“ an; deren Bürger sehen trotz ihrer Goldkrone nur die Gänsemagd, verjagen sie und Königssohn und schlagen den sie als mögliches Herrscherpaar feiernden Spielmann zum Krüppel – das läuft zwei Akte lang als Märchenhandlung mit schön eingängiger Musik ab. Doch dann führt ein langes Vorspiel zum letzten Akt in eine Leidens- und Klage-Tiefe, die das Werk auf eine Ebene mit den großen Tragödien des Musiktheaters erhebt: die beiden Liebenden erfrieren hungernd und obdachlos im Winter; einzig die Kinder der Stadt und der Spielmann hoffen auf Hellsichtigkeit künftiger Generationen…

Da wäre aus Textstellen wie „Will dienen, dienen ein Jahr! Und so ich ein guter Knechtknabe war, aller Demut Meister worden bin, dann hab’ ich rechten Königssinn“ beschließt der Königssohn; „Die Henkerstochter, der Henkersknecht waren königsecht in ihrem Lieben und Leiden. Und so sei es dir heute herrlich gesagt: Ein Königskind ist die Gänsemagd!“ bestätigt der Spielmann dem Mädchen; „Ihr sollt nicht ducken in Maulwurfshügeln,... will Licht euch allen geben, euch all’ zu Königen erheben!“ prophezeit der als Schweinehirt dienende Königssohn den dumpfen Bürgern – all das 1910, inmitten des protzenden Wilhelminismus! – da wäre auch 2021 etwas herauszulesen - die Utopie eines Herrschaftssystems, das ganz und gar humanistisch orientiert ist, seine Bürger achtet und fördert, also das Individuum zum schätzenswerten Mittelpunkt seines Regierens macht – da könnte doch ein „angestaubtes Opernmärchen“ wie ein Fanal leuchten: hat nicht das Pandemie-Jahr auch denkenden Theaterbesuchern abermals das Elend aller Ungleichheit offengelegt?

Das hat nur Jungregisseur Matthew Wild und seinen Ausstatter Herbert Murauer gar nicht interessiert. Sie haben in detailfreudigem Naturalismus Gänseteich, Wald, Hexen-Wohnwagen, eine Fußball-Tribüne samt Würstelbude für das Bürger-Tribunal und abschließend Winterwald auf die Bühne gestellt – und darin die Handlung gradlinig erzählt, wobei Wilds Sinn für feinfühlige Personenregie schön-schlichte Spielzüge bescherte.

Das gelang auch, weil Festspielintendant Bernd Loebe gezielt junge Solisten vorstellt. Prompt erntete der anfangs fröhlich vitale, dann als Krüppel ohne Verbitterung lebensweise Spielmann von Iain MacNeill mit warm leuchtendem Bariton den größten Applaus. Viel schwieriger das Titelpaar zu besetzen: Da überzeugten die mädchenhaft kleine Gänsemagd-Sopranistin Karen Vuong und der stattliche Königssohn-Tenor Gerard Schneider sowohl äußerlich wie vokal: nach ein paar kleinen Forciertheiten – à la „Wir dürfen endlich singen, wir legen los!“ – gelang beiden ein anrührendes „Liebe besteht auch den bitter frühen Tod“-Finale. Zuvor hatten die Nebenrollen-Solisten, voran Katharina Magieras Hexe, der Chor, insbesondere der Kinderchor der Schule für Chorkunst München überzeugt – bis hin zu der kleinen Alena Sys, die als einzig hellsichtiges Kind im verjagten Schweinehirt und Gänsemagd erkennt „Das ist der König und seine Frau gewesen“ – und am Ende die Fidel, die Musik des Spielmanns weiterträgt.

Dass die symbolhafte Tiefe dieses 3.Akts anrührte, war Dirigent Karsten Januschke zu danken. Er hatte den mehrfach aufbrechenden Losspiel-Enthusiasmus des wagnerianisch großen Orchester gedämpft, ohne darüber die immer wieder hochwallende Emotion, das klangliche Leuchten um die Humanität der Gänsemagd zu verlieren. Die italienischen und osteuropäischen „Fraktionen“ des Tiroler Festspielorchesters Erl klangen gut „vereint“. Sie folgten dem sichtbaren Engagement Januschkes und so wuchs sich der Final-Akt zur ernsten und bitter-großen Klang-Parabel aus – einer Parabel, die auf unsere von Status-Denken verformte Welt zeigt, in der gilt „Doch die Verhältnisse, die sind nicht so!“

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