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Opern-Kritik: Theater Lübeck – Die Gespenstersonate

Der Club der toten Großbürger

(Lübeck, 23.5.2021) Aribert Reimanns Meisterwerk des Kammermusiktheaters zieht uns dank der Regie von Julian Pölser, der Musikalischen Leitung von Andreas Wolf und einem gefeierten Sängersensemble vollends in den Bann des Surrealen.

vonPeter Krause,

In schummrig grauem Licht gleitet aus einer spitz nach hinten zulaufenden, fensterlosen Schlucht eines Hauses ein Rollstuhlfahrer ganz langsam gen Orchestergraben. Es ist zunächst nicht erkennbar, wer das dunkle Wesen sein könnte, denn es kehrt uns den Rücken zu. Erst vorn an der Rampe angekommen, dreht es sich um. Ein weiß geschminkter Mann im schwarzen Anzug – Direktor Hummel, „Der Alte“ – sitzt darin. Sein finster dreinblickendes Minenspiel lässt nichts Gutes ahnen. Es führt uns freilich geradewegs hinein in die Abgründe von August Strindbergs „Die Gespenstersonate“, die Aribert Reimann 1984 in seine fantastisch intensive, atmosphärisch dichte, dank ihrer gestisch aufgeladenen assoziationsreichen Avantgarde musikalisch sofort fassliche Kammeroper verwandelt hat. Ein Meisterwerk des Musiktheaters hat der gerade erst 85 Jahre jung gewordene, weiterhin schaffensfrohe Berliner da erschaffen, eines großes bleibendes Opus, das in seiner radikalen Reduktion auf das Wesentliche eine subkutane Wirkungsmacht hervorruft und der bekannteren wie orchestral opulenteren Vertonung von Shakespeares „Lear“ in nichts nachsteht und einem „Wozzeck“ Alban Bergs ähnelt, dessen Naturalismus ins Surreale gewandt ist.

Beredt verschwiegene Untaten

Julian Pölser ist nun am Theater Lübeck ein kongenialer Interpret dieser von Geheimnissen umwitterten Geschichte, in dem die Traumata einer im weiteren Sinne familiären Hausgemeinschaft und ihrer immergleichen Gäste offenbart werden: Die vielseitig miteinander verwobenen, beredt verschwiegenen Untaten dieser düsteren Personage werden durch munter über die Bühne spazierende Untote enthüllt, die ein neu in das Haus geladener Student sehen kann und an die er, gleich einem modernen Wiedergänger des reinen Toren Parsifal, unbefangene Fragen stellt, die immer weiter hinein und hinunter führen in diese Unterwelt eines herrschaftlichen Palazzo, die Ausstatter Roy Spahn durchaus wörtlich auf die Bühne bringt: Die Figuren schauen das Gras allesamt bereits von unten an. Dazu hat Spahn überdimensionale Blumenzwiebeln in die Decke gehängt, die sich später als Hyazinthen entpuppen, schließlich hat das Fräulein (die lupenreine Sopranistin Andrea Stadel), in das sich der Student Arkenholz (Yoonki Baek singt die extrem hohe Tenorpartie ganz frei und leicht und glänzend) verliebt, ein Faible für die bunten Blumen, denen ihr Kostüm als einziger Farbtupfer in dieser Unterwelt denn auch wundervoll gleicht.

Szenenbild aus „Die Gespenstersonate“
Szenenbild aus „Die Gespenstersonate“

Die Spannung eines schwarz-weißen Horrorstreifens von Hitchcock

Das Setting der drei Bilder, beginnend mit dem eingangs skizzierten Auftritt des Direktor Hummel, erzeugt sogleich die Spannung eines schwarz-weißen Horrorstreifens von Hitchcock und entwickelt über die 90 pausenlosen Minuten eine stets gesteigerte Sogkraft, in der uns das Surreale und das Verhüllende, das Okkulte und das Verdrängte in seinen Bann ziehen. Höhepunkt ist fraglos das zweite Bild im Hause des Oberst, in dem dieser zum seit Jahren wiederholten Geistersouper lädt. Am langgezogenen Esstisch treffen Opfer und Täter, Betrogene und Betrüger aufeinander. Dazu treten erstere aus dem Wandschrank, so die raumgreifend erschütternde Mumie, die in der Berliner Uraufführung einst die legendäre Wagner-Heroine Martha Mödl mimte und der jetzt Karin Goltz mit dem der großen Rollenvorgängerin abgelauschten Ton der pathetischen Deklamation und der Präsenz einer urweiblichen Grandezza perfekt nacheifert. Sein manipulatives Spiel der Vereinnahmung und der Verschleierung treibt der Alte, alias Direktor Hummel, dem Otto Katzameier als derzeit führender Vertreter der Bassbariton-Partie die Macht seiner Stimme, seiner markanten Textdurchdringung und seiner Darstellungskraft leiht. Einer Kastration gleicht hier Hummels Degradierung des falschen Oberst, den Wolfgang Schwaninger mit seinem imposanten Heldentenor auf des Messers Schneide zwischen der Karikatur eines Orden wie Lametta tragenden Militärs und einer bemitleidenswerten armen Kreatur zeichnet, der seine angestammte gesellschaftliche Rolle und Bedeutung auf einmal geraubt wird.

Geheimnisse der Untoten und heimliche musikalische Anspielungen

Durchaus auch herrlich humorig im Sinne einer Gesellschaftssatire geht es in diesem Club der toten Großbürger zu, wenn Julian Pölser die Enttarnung der Identitäten mit der ironischen Überspitzung eines Thomas Bernhard würzt, der in seinen Theaterstücken einst die bitterböse Parodie auf das gewesene Wiener Großbürgertums wagte. Feinfühlig akzentuiert der Regisseur zudem szenisch die impliziten wie expliziten musikalischen Anspielungen, die in die Partitur von Aribert Reimann durch dessen frühe Arbeit als Korrepetitor eingeflossen sind: Die erste Begegnung von Arkenholz mit der Erscheinung einer Toten, hier dem stumm bleibenden Milchmädchen, deutet er als Aufeinandertreffen von Siegmund und Sieglinde, wenn letztere ihrem erschöpften Bruder die Labung frischen Wasser zueignet.

Die tosende Stille immer neuer wiederentdeckter Erinnerungsfetzen

Die musikalische Interpretation durch Andreas Wolf und das Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck stützt die Regie in idealer Weise. Gleich einer tosenden Stille immer neuer wiederentdeckter Erinnerungsfetzen enthüllt uns das Orchester in subkutaner Wirkung die Geheimnisse der verdrängten Vergangenheit. Dank der enorm kundigen Reimann-Exegese von Andreas Wolf entsteht eine maximale Plastizität des Ausdrucks, die das Sängerensemble wie das Orchester gleichermaßen präzise akzentuieren. Die Präsenz der vokalen wie instrumentalen Stimmen im Jugendstilschmuckkästchens nahe der Trave ist in der nun endlich wieder möglichen Live-Aufführung mit begrenztem getestetem Publikum im Saal ein Erlebnis voller Magie. So soll Musiktheater sein.

Theater Lübeck
Reimann: Die Gespenstersonate

Andreas Wolf (Leitung), Julian Pölser (Regie), Roy Spahn (Ausstattung), Falk Hamel (Licht), Otto Katzameier, Yoonki Baek, Wolfgang Schwaninger, Karin Goltz, Andrea Stadel, Daniel Schliewa, Steffen Kubach, Milena Juhl, Julia Grote, Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck

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