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OPERN-KRITIK: Hamburgische Staatsoper – molto agitato

Bunter Abend mit Gewalt

(Hamburg, 5.9.2020) Zur Spielzeit- und Wiedereröffnung nach der Pandemiepause dirigiert Kent Nagano seinen Kurt Weill an der Hamburgischen Staatsoper traumwandlerisch, Frank Castorf kann mit Musik nichts anfangen.

vonPeter Krause,

Ein bisschen Händel, Brahms, Ligeti und Weill, mit eher losem Faden verbundene Musik von vier Meistern, die mehr oder weniger eng mit Hamburg verbunden waren und in deren Partituren mitunter die Vortragsbezeichnung „molto agitato“ aufzuspüren ist: diese Dramaturgie des Disparaten ist gar keine schlechte Steilvorlage für einen Regisseur, der Werke als möglichst freie Materialvorlage auffasst, die es nach Belieben zu dekonstruieren und der eigenen Weltsicht gefügig zu machen gilt. Frank Castorf war zur Spielzeiteröffnung an die Hamburgische Staatsoper eingeladen, um den Bilderbogen blutiger russischer Geschichte, den uns Mussorgsky mit seinem „Boris Godunow“ hinterlassen hat, mit seiner Ästhetik des Agitprop und des Video-Overkills zu versehen. Doch das Zentralwerk des russischen Repertoires sieht den Chor als heimliche Hauptrolle vor, an eine Realisierung in Pandemiezeiten war somit nicht zu denken.

Irgendwie postmodern performativ, irgendwie hysterisch

Die Rettung ins performative Projekt lag also nahe. Genau vier Sänger, die eher knappe, Distanz ermöglichende Musikschnipsel singen, und eine Schauspielerin aus dem Dunstkreis des Regisseurs sollten sich in Konformität mit den Abstands- und Hygieneregeln zu Proben versammeln können und so einen maximal zweistündigen pausenlosen Abend gestalten, in dem es dann ohnehin weniger um ausgefeilte poetisch-psychologische Personenregie gehen müsste als um die zuspitzend vergröbernde Botschaft mittels Videopräsentationen, auf die sich das Team um den einstigen Berliner Volksbühnenchef seit Jahren spezialisiert hat. Irgendwie postmodern, irgendwie hysterisch schreierisch, irgendwie die Sinne mittels eines medialen Zuviel überfordernd sollte das Ergebnis schon werden.

Sitzt der wahre Spießer im Premierenpublikum – oder am Regiepult?

Nur: Worauf bezieht sich das titelgebende „molto agitato“? Auf den Zustand der Welt, der freilich so voller eigener Agitation ist, dass der Kunst gerade jetzt wieder ihr utopisches Potenzial zuwachsen müsste, um im Wahren, Schönen und Guten von Aura und Magie mutige alternative Zukunftsentwürfe und Gegenweltkonzeptionen zu wagen? Oder zielt das Agetieren immer noch auf die trantütigen Spießer im Publikum, die nicht verstehen wollen, was der Regieguru da an Welterkenntnissen zu verkünden hat? Wäre letzteres intendiert, käme es freilich um Jahrzehnte zu spät, denn die Aufklärung der Bürgerlichen hat längst stattgefunden, der wahre Spießer, der beleidigt einem untergegangen Zeitgeist nachhängt, sitzt womöglich eher am Regiepult denn im Premierenpublikum. Gleicht „molto agitato“ also im Ergebnis eher einem „molto noioso“ – somit der Langeweile, die Künstler auslösen, die selbstmitleidig und immer-noch-beleidigt der deutschen Vor-Wendezeit nachtrauern? Würde dann im Spiegel, den diese Inszenierung den kalten Kapitalisten vorhalten möchte, nur der Regisseur selbst nebst dessen seelischen Befindlichkeiten sichtbar?

Katharina Konradi; hinten: Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg
Katharina Konradi; hinten: Mitglieder des Philharmonischen Staatsorchester Hamburg

Kapitalismuskritik als Regiebehauptung

Nichts gegen Kapitalismuskritik. Kurt Weills „Die sieben Todsünden“, mit denen der Abend beschlossen wird, gibt sie als mögliches Thema vor. Die überdimensionale USA-Flagge, die gleich zu Beginn die „Ankunft der Königin von Saba“ aus Händels „Salomo“ als visuelle Chiffre begleitet, deutet diese Richtung frühzeitig an, bleibt allerdings zunächst bloße Regiebehauptung. Denn zu György Ligetis „Nouvelles Aventures“, deren psychische Polyphonie Kent Nagano mit dem achtköpfigen Ligeti-Orchester der Philharmoniker wunderbar fein ziseliert ausmusizieren lässt, parkt Castorf die drei herrlichen Sänger Katharina Konradi, Jana Kurucová und Georg Nigl an der Rampe, um sie dort im Regen der Nicht-Regie stehen zu lassen. Das Live-Video zoomt uns dazu die Gestik von Sopranistin Katharina Konradi heran. Diese Demut der Bilder schränkt immerhin die gespannte Rezeption der starken Musik nicht ein.

Des Regisseurs Immunität gegenüber der Musik

Auch die drei der „Vier Gesänge op. 43“ von Johannes Brahms singt Tenor Matthias Klink, am Steinway begleitet von Studienleiter Rupert Burleigh, im Habitus des Liederabends, allein zwischen die Lieder eingeschobene Dialoge sollen die romantischen Liebe mit ein paar modernen Geschlechterklischees konterkarieren. Des Regisseurs Immunität gegenüber – oder ist es das totale Desinteresse an? – Musik offenbart sich in den nachfolgenden Ausschnitten aus Georg Friedrich Händels „Aci, Galatea e Polifemo“. Das bereits bei Ligeti famose Gesangstrio bewährt sich auch hier, Nagano steuert nun mit dem 17-köpfigen Händel-Orchester fein gerundete Klangschönheit bei, szenisch ereignet sich eine weitere Null-Nummer. Der dazu gezeigte, für sich genommen wirklich witzige alte russische Zeichentrick-Streifen, der in freudig nackiger Leiblichkeit mythische Urmotive verarbeitet, degradiert Händel indes zum sekundären Soundtrack.

Vorne: Valery Tscheplanowa
Vorne: Valery Tscheplanowa

Von der eitlen Selbstsucht des alten weißen Mannes

Seine in der Oper bekanntlich ansehnliche Regiegage verdient Frank Castorf erst ganz am Ende des Abends, als er Kurt Weills „Todsünden“, in denen Schauspielerin Valery Tscheplanowa als Anna die nachgerade perfekte Brecht-Interpretin ist, mit Szenen extra blutiger Brutalität garniert. Vorab ließ er dazu Filmsequenzen von Quentin Tarantino mit den „molto agitato“-Darstellern nachdrehen, die nun zeigen dürfen, welch enormes schauspielerische Potenzial in ihnen steckt. Bariton Georg Nigl als vulgärwienernd ekliges Mannsbild ist schon ein Ereignis. Doch wie bereits bei Tarintinos Filmen stellt sich nun auch hier die Frage, ob die unkommentierte, ungebrochene und darin letztlich affirmative Darstellung exzessiver menschlicher Abgründe sowie sadistischer sexistischer Klischees von Monroe-blonden Weibchen und mit ihrer Penisgröße prahlenden Dreckskerlen letztlich gewaltverherrlichend und frauenfeindlich gemeint sein könnte? Fraglos erscheint das auf maximale Vergröberung und das Ausblenden jeglicher Zwischentöne setzende Frauen- wie Männerbild des Regisseurs als hoch problematisch. Nicht zuletzt Kurt Weills Musik, die Kent Nagano traumwandlerisch swingen lässt, erweist sich als ungleich dialektischer, vielschichtiger und einfühlsamer als die Regie. Mit Empathie will und kann Castorf durchaus nicht aufwarten. Statt von der visionären Gedankengröße des alternden weisen Mannes erhoben zu werden, müssen wir an diesem Abend die eitle Selbstsucht des alten weißen Mannes erfahren.

Hamburgische Staatsoper
Händel / Brahms / Ligeti / Weill: molto agitato

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