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Opern-Kritik: Southbank Center London – Siegfried

Die Geburt der Komödie aus dem Geiste der Musik

(London, 1.2.2020) Münchens designierter GMD Vladimir Jurowski und das London Philharmonic Orchestra schmieden den „Ring“ weiter – und triumphieren mit dieser heimlichen Generalprobe für neue Wagnertaten an der Isar.

vonPeter Krause,

Während die britische Yellow Press Trumpsche Metaphern von neuer alter nationaler Größe bemüht, leiden Londons Europafreunde an Götterdämmerungsdepression. Das erste Wochenende nach dem Brexit gleicht einem Wechselbad der Gefühle. Die besonders engagierten Europäer aber singen den militanten Ausstiegsenthusiasten in der Downing Street jene Europanhmyne entgegen, in denen es mit Schillers Worten heißt: „Alle Menschen werden Brüder.“ Das Königreich steht vor einer Zerreißprobe. Ob die Künste jetzt vermitteln, versöhnen können? Die hoch konzentrierte Stimmung und der kenntnisreich differenzierte Applaus nach jedem Aufzug von Richard Wagners „Siegfried“ im Southbank Center beweisen, wie sehr London doch Musikstadt ist – und nicht nur kapitalistisches Zentrum von Konsum- und Bankenwelt.

Wenn das Orchester zum Star wird

Wanderer & Alberich
Wanderer & Alberich

Vladimir Jurowski setzt hier mit seinem London Philharmonic Orchestra (LPO) die intensive Auseinandersetzung mit „Der Ring des Nibelungen“ fort. In einem Jahr folgt die „Götterdämmerung“ – und es folgen damit auch gleich zwei komplette zyklische Aufführungen der Tetralogie vom 25. bis 31. Januar sowie von 5. bis 10. Februar 2021. Die Termine sind für Wagnerianer ein Muss! Denn in London ereignete sich jetzt eine Konzertversion des „Siegfried“, die aus dem Verzicht aufs Regiexperiment vollends eine Tugend macht. Aus dem Weniger wird ein Mehr. Zwölf Jahre bereits steht der 1972 in Moskau geborene Maestro dem Spitzenensemble der britischen Hauptstadt nun bereits vor – da besteht gleichsam blindes Vertrauen zwischen einem natürliche Autorität aussstrahlenden Dirigenten und einem Klangkörper, der durch seine Sommerresidenz beim Festival in Glyndebourne seine sinfonische Kernkompetenz längst profund ins Opernfach ausgedehnt hat. Jurowski denkt seinen Wagner nun so genuin musikdramaturgisch, derart wissend Übergänge bauend und Höhepunkte ansteuernd, das sein Orchester zum Wagner-virtuosen Star des Abends wird – und das Drama im Wagner-Sinn als „ersichtlich gewordene Taten der Musik“ in aller Intensität erlebbar wird.

Sensualistischer Sog und die imaginative Zartheit der Menschenliebe

Bereits der Beginn gerät mystisch. Der Saal wird komplett abgedunkelt, die ersten pianissimogetupften Paukentöne kommen wie aus dem Nichts. Auf dem bassigen Fundament des LPO baut Jurowski einen warm-dunkel-saftigen Streicherklang auf, der dynamisch und farblich extra fein austariert und detailverliebt ausgehört ist. Der Energiestrom reißt selbst in Generalpausen nicht ab, die Phrasierung folgt dem Energiestrom langer, langer Linien, die zumal im Lyrischen eine Innenspannung besitzen, die den Gänsehautfaktor der Musik maximieren. Bedeutende Augenblicke heben Jurowski und die Seinen empor, wenn das Orchester im Pianissimo und Siegfriedsänger Torsten Kerl mit innigem Legato die Frage intonieren: „So starb meine Mutter an mir?“ Die lyrischen Schönheiten der Partitur und die Finessen des Instrumentationszauberers Richard Wagner sind endlich einmal in all ihrer berührenden Gänze zu bestaunen. Das Waldweben entfaltet all seinen sensualistischen Sog und die imaginative Zartheit der Menschenliebe.

Die Musik schwitzt nicht – Gefühlslogik klingt besser

Elena Pankratova (Brünnhilde), Torsten Kerl (Siegfried)
Elena Pankratova (Brünnhilde), Torsten Kerl (Siegfried)

Klangpracht und Artikulationsschärfe kommen dabei nicht zu kurz. Da brennt in den Schmiedeliedern die Hütte, und doch schwitzt die Musik nicht. Torsten Kerl muss als jugendlicher Held nie präpotent stemmen, er kann den Siegfried wirklich singen, nur ein paar angekratzte Töne zeigen, dass er hier eine Grenzpartie gibt. Berührend gestalten Sänger und Dirigent den Übergang vom Waldweben, in dem Siegfried seiner Mutter Sieglinde gedenkt („ein Menschenweib“), zur Waldvogelszene: In Cellokantilene und Konzertmeistersolo wird die Gefühlslogik der Partitur intuitiv spürbar. Torsten Kerl persönlich spielt dann auf dem Englischhorn (dem „dummen Rohr“) dem Waldvöglein von Alina Adamski zu. Der Mann kann also nicht nur singen und schmieden, schließlich ist der Amboss in London als einziges Requisit durchaus gefragt. Siegfried und Mime hämmern darauf mit absoluter hythmischer Präzision. Adrian Thompson gibt als Mime den perfekt und konsonantenscharf charakterisierenden komischen Alten – eine umjubelte Meisterleistung.

Qualitätsstimmen

Als Wotan-Wanderer im Regenmantel nebst Kapuze über dem Kopf ist Evgeny Nikitin mit edel strömendem Bassbariton ein nachdenklicher Ex-Gott, Robert Hayward trumpft als Alberich mit imposantem Organ in derselben Stimmlage auf, schließlich hat er noch Hoffnung auf die Weltherrschaft, die einst sein Sohn Hagen mit dem Ring erringen soll. Vorfreude auf die Gestaltung des grandiosen Intriganten in einem Jahr in der „Götterdämmerung“ macht Brindley Sherrat als Fafner mit höllemschwarzem Bass. Welch eine Qualitätsstimme! Elena Pankratova bestätigt ihren exzellenten Ruf als Hochdramatische von Rang im finalen Liebesduett mit Torsten Kerl. Da gibt es Augenblicke von wahrer Birgit Nilsson-Grandezza. Anna Larsson ist als Erda vom Dienst mit von der Partie.

Als Proben- und Präzisionsfanatiker ist Jurowski seinem Münchner Vorgänger Petrenko gar nicht so unähnlich

Alina Adamski (Woodbird)
Alina Adamski (Woodbird)

Am Ende dieses großen Wagner-Abends schwingen indes nicht nur politische Kontexte zwischen dem Notentext mit. Denn aus deutscher Sicht steht Vladimir Jurowski schließlich unter besonderer Beobachtung. Ab Herbst 2021 steigt er auf das bedeutendste Opernpult, das die Republik zu bieten hat. Er wird Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper München, folgt damit auf seinen Landsmann Kirill Petrenko, der jüngst München mit dem heißesten Posten der sinfonischen Welt getauscht hat: Petrenko wurde Chef der Berliner Philharmoniker. Jurowski aber muss in München natürlich den Hausheiligen Wagner so sehr zur Chefsache machen wie sein Vorgänger. Da ist der Londoner „Ring“ eben auch eine Generalprobe für München. Als Proben- und Präzisionsfanatiker seinem Vorgänger Petrenko gar nicht so unähnlich, gewinnt Jurowski aus penibler Klangkontrolle entscheidende Freiheitsmomente, die große Musik zum Atmen braucht. Der Weg von der Themse an die Isar wirkt logisch. Auch der ebenfalls designierte Münchner Intendant Serge Dorny lauschte dem Abend. Er kann sich auf diesen musikalischen Partner freuen. Und die Landeshauptstadt ebenso.

Southbank Center
Wagner: Siegfried

Vladimir Jurowski (Leitung), Rob Casey (Lichtdesign), Pierre Martin (Videodesign), Torsten Kerl, Evgeny Nikitin, Elena Pankratova, Adrian Thompson, Robert Hayward, Brindley Sherratt, Anna Larsson, Alina Adamski, London Philharmonic Orchestra

„Der Ring des Nibelungen“ als Zyklus in London: 25. bis 31. Januar & 5. bis 10. Februar 2021

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