«Poppea» in St. Gallen: So hat man Monteverdis Oper seit achtzig Jahren nicht mehr gehört

Das Theater St. Gallen beweist wieder einmal Mut: Es zeigt «L’incoronazione di Poppea» in einer vergessenen Fassung von Ernst Krenek, die dem frühbarocken Werk mit Mitteln der Moderne begegnet.

Felix Michel, St. Gallen
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Raffaella Milanesi überzeugt als Poppea in Ernst Kreneks Bearbeitung von Monteverdis «L’incoronazione di Poppea». (Bild: Iko Freese / Theater St. Gallen)

Raffaella Milanesi überzeugt als Poppea in Ernst Kreneks Bearbeitung von Monteverdis «L’incoronazione di Poppea». (Bild: Iko Freese / Theater St. Gallen)

Sie endet mit dem Triumph der Liebe, allerdings der gänzlich unchristlichen: Claudio Monteverdis letzte Oper spielt am Hof des römischen Kaisers Nero. Dieser räumt, angestachelt von seiner Geliebten, alle Hindernisse aus dem Weg, um rücksichtslos sein Begehren zu erfüllen. Der Gott Amor hat damit seine Wette gewonnen, die er im allegorischen Vorspiel mit Tugend und Schicksal geschlossen hatte: Er ist der eigentliche Welten- und Himmelslenker. Diese Feststellung hat die Monteverdi-Forschung umgetrieben und den modernen Erfolg von «L’incoronazione di Poppea» beflügelt.

Die Wollust triumphiert – und dankt ab

Die Inszenierung, die jetzt in St. Gallen zu erleben ist, nimmt diesem Skandalon nichts an Schärfe, geht aber einen Schritt weiter. Geschickt führt sie die Schlussszene in eine neue Ambivalenz – und bewahrt dem Werk damit selbst heute, da niemand mehr einen Philosophen zum Selbstmord zwingt (wie Nero Seneca), um ein freies Liebesleben zu führen, seine Aktualität. Beklemmend und rührend zugleich gerät Amors Macht ins Wanken; den einzigen Triumph feiern am Ende die Beteiligten auf und hinter der Bühne sowie im Orchestergraben.

Die Opernsparte des Theaters St. Gallen hat damit erneut einen guten Riecher bewiesen – und eine gehörige Portion Mut. Denn gespielt wird nicht etwa das Original von 1643, dessen Schönheiten uns die historisch informierte Aufführungspraxis in den letzten Jahrzehnten wieder erschlossen hat. Nein, zu entdecken ist – und dies allein lohnt bereits die Reise nach St. Gallen – eine gründlich vergessene Bearbeitung von Ernst Krenek (1900–1991), die nach wenigen Aufführungen im Jahr 1937 nie mehr szenisch realisiert worden ist und von der auch keine Aufnahme existiert.

Während in Florenz und Paris im selben Jahr Versuche unternommen wurden, die frühbarocke Opernpraxis zu rekonstruieren, griff Krenek die kurz zuvor erstmals veröffentlichten Quellen mit einer ganz anderen Absicht auf: Figurenbestand und Handlung verdichtet er entschieden, die Musik hingegen entfaltet er freimütig zu einem Orchestergewebe, das keinen Anspruch auf Historizität erhebt.

Ein «lebendiges Ganzes»

Kreneks Hauptziel, so deklariert er selbst mit Blick auf seinen damals zehn Jahre zurückliegenden Welterfolg «Jonny spielt auf», sei einzig «lebendiges, interessantes, anteilerregendes Theater – mit welchen Mitteln, das soll uns gleich gelten, wenn es gelingt, ein lebendiges Ganzes auf die Bühne zu stellen.»

Und ja, dieses Ziel erreicht das Produktionsteam um den Regisseur Alexander Nerlich mit einer schlüssig durchgestalteten «Poppea». Die fast unveränderliche Bühne von Wolfgang Menardi zeigt ein leeres Schwimmbad (eine feine Anspielung auf das lüsterne Schaumbad der Zürcher Inszenierung von vergangenem Jahr). Seine Keramikkacheln scheinen für jede Art Säfte gerüstet, sind aber meist doch nur mit verbrannter Kohle bestreut.

Auch Žana Bošnjaks düstere, gleichwohl charakterisierende Kostüme tragen Nerlichs Lesart mit. Wichtigste Zutat jedoch ist eine stumme Rolle, die Diane Gemsch mit nie versiegendem Einfallsreichtum an Bewegungen (Choreografie Jasmin Hauck) tanzt. Auf der Website noch als «Schatten», im Programmheft als «Amore» angekündigt, ist sie beides. Sie verkörpert die triebhafte Schnittmenge von Lust und Angst als wortloses Naturwesen. Anders als die romantischen Undine-Figuren ist sie nicht aus klarem Wasser, sondern aus klebriger Schwärze aufgetaucht. Ihre entsprechend zählüsternen Bewegungen prägen die Bewegungssprache aller Beteiligten – im ersten Teil etwas zu sehr.

Nur kurz vor der Pause zieht sich die Figur sinnfällig zurück: wenn Seneca – als Stoiker ohne Furcht vor dem Tod – sich die Pulsadern öffnet. Von Krenek dramaturgisch effektvoll vor die Pause platziert und vom Bassisten Martin Summer als Seneca eindringlich gestaltet, gerät die Szene an der Premiere zum Wendepunkt. Danach stellt sich eine gewisse Lockerheit ein – gerade im Orchestergraben, wo fast jedes Instrument solistische Verantwortung trägt in einer anspruchsvollen, oft kleingliedrigen Partitur, welche die junge Dirigentin Corinna Niemeyer technisch sensibel disponiert und gestaltet; eine feine Leistung.

Der Operndirektor Peter Heilker seinerseits beweist sein glückliches Händchen auch bei der Auswahl der Sänger: Im Barockrepertoire versierte Stimmen – notabene Raffaella Milanesi und Anicio Zorzi Giustiniani als überzeugende Hauptfiguren – kombiniert er mit dem wärmeren Timbre des 19. Jahrhunderts (etwa der Mezzosopranistin Ieva Prudnikovaite, die eine vielschichtige Ottavia zeichnet) zu einem klanglich ausnehmend stimmigen Ensemble. Dies ist wahrlich nicht die Regel im Opernbetrieb; ebenso wenig, dass die Qualität bis in die kleinen, aus dem Theaterchor besetzten Rollen (Barna Kovács als 1. Soldat) gehalten wird.

Zu entdecken: Kreneks Jahrhundert

Zugegeben, verglichen mit historisch informierten Aufführungen sind die Möglichkeiten der vokalen Darstellung geringer. Krenek biegt die Rollen auf die modernen Stimmfächer (und übrigens auch auf gefestigte Gender-Identitäten) um. Seine Instrumentierung lässt zu wenig Raum für freiere Deklamation (geschweige denn Verzierungen).

Sie will vielmehr selbst den Singstimmen ihre emotionalen Facetten verleihen, indem bald eine klagende Phrase in Oboenklang getaucht, bald eine Drohung von dissonierenden Linien umflochten wird. Aber eben: Nicht das siebzehnte, sondern das zwanzigste Jahrhundert mit seinen Stilwandlungen gibt es hier zu entdecken – und den kompositorischen Maskenspieler Krenek.

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