Gelsenkirchen: „Fidelio schweigt.“, Charlotte Seither / Ludwig van Beethoven

Fidelio ist bekanntlich die einzige Oper Ludwig van Beethovens und trotz ihrer wunderbaren Musik wird sie – vielleicht auch auf Grund einiger Schwächen in der Geschichte – eher selten aufgeführt. Im Rahmen des Beethovenjahres 2021 war am Musiktheater im Revier angedacht, zu dieser Oper eine neue Version zu schaffen, die sich vor allem um Leonore dreht. Nachdem die ursprüngliche Oper im Rahmen ihrer Entstehungsgeschichte von Leonore zu Fidelio umbenannt wurde, bestand ein Ansatz für die Neukomposition darin, dass Leonore sich nicht weiter als Mann – sprich Fidelio – verkleiden muss, um ihren Gatten Florestan aus dem Staatsgefängnis zu retten. Hier sitzt dieser als politischer Gefangener ein, während der Gouverneur Don Pizarro bereits seinen Tod plant. Doch die Corona-Pandemie hat viele Pläne für die großen Feierlichkeiten zu Beethovens 250. Geburtstag zunichte gemacht, und so wurde auch die Uraufführung der Oper Fidelio schweigt. auf das Jahr 2024 verschoben. Nach siebenjähriger Vorbereitung fand die Premiere nun am 12. Mai im Großen Saal des MiR statt.

© Karl und Monika Forster

Charlotte Seither ergänzt Beethovens Oper (die bis auf den gänzlich fehlenden ersten Akt weitgehend wie gewohnt erklingt) durch ihre eigene, in diesem Fall stark geräuschlastige Komposition. Das Ganze wird dementsprechend als „Dialog-Oper“ angekündigt, da durch den Wechsel von Neukomposition und klassischem Material die beiden Kompositionen auf ihre ganz eigene Weise quasi miteinander ins Gespräch kommen. Abgesehen von vereinzelten Übermalungen, vor allem gegen Ende, bleiben die beiden musikalischen Welten jedoch nebeneinander bestehen. Zudem fügt Seither dem Stück einen Frauenchor hinzu, der immer wieder mit flüsternden Stimmen und fast sakralen Klängen eingreift. Die Rollen der Marzelline und des Ministers Don Fernando werden dagegen aus dramaturgischen Gründen komplett gestrichen. Der Fokus des Abends liegt, wie eingangs erwähnt, eindeutig auf Leonore. Gleich zu Beginn sieht der Zuschauer sie durch den strömenden Regen einer Großstadt irren. Hier kommen auch die beeindruckenden Videoprojektionen von Falko Herold und Vincent Mesnaritsch (beide auch für das detailverliebte Bühnenbild und die Kostüme verantwortlich) erstmals zum Einsatz, die sich durch den gesamten Abend ziehen und fast schon an eine gut gemachte Krimiserie erinnern. Später übt Leonore an Zielscheiben den Umgang mit der Pistole und lässt sich als Helferin im Gefängnis anstellen. Hermann Schneider inszeniert das alles als atmosphärisch dichtes Drama, das den Zuschauer schnell in seinen Bann zieht. Er steuert auch neue Texte bei, unter anderem eine Schlüsselszene des Abends, in der Leonore in einem Hotelzimmer auf Don Pizarro trifft und sich herausstellt, dass die beiden eine Affäre miteinander haben oder zumindest hatten. Leider schleichen sich hier offenbar kleine Ungereimtheiten ein und man fragt sich, warum Leonore das Hotelzimmer ausgerechnet durch das Badezimmer betritt und nicht durch die Zimmertür. Auch bei den Begegnungen im Gefängnis scheint die Liebesgeschichte der beiden nicht unbedingt bis ins letzte Detail schlüssig. Aber das sind eher kleine Randerscheinungen in einer Inszenierung, die zum Showdown in Florestans Zelle noch einmal richtig Spannung aufbaut und auch hier nicht unbedingt den erwarteten Verlauf nimmt.

© Karl und Monika Forster

Für Gänsehaut sorgt auch das Finale, in dem der wunderbar einstudierte Chor und die unter der Leitung von Peter Kattermann famos aufspielende Neue Philharmonie Westfalen von einem vierköpfigen Streichquartett abgelöst werden. Gut gelöst ist auch, dass der Ort der Handlung bewusst offengelassen wird und hier ein Zeichen gegen jede Tyrannei in der Welt gesetzt wird. Dementsprechend sind auch einige Projektionen auf der Bühne bewusst nur in englischer Sprache gehalten. Da diese aber gerade am Ende für das Verständnis der Handlung durchaus wichtig sind, wären hier übersetzende Übertitel wünschenswert gewesen, da einigen älteren Zuschauern im Publikum an dieser Stelle offensichtlich eine gewisse Verwirrung ins Gesicht geschrieben stand.

Auch die Besetzung der vier Hauptrollen kann als sehr gelungen bezeichnet werden. Ilia Papandreou strahlt sowohl stimmlich als auch darstellerisch Kraft aus und sorgt für eine filigrane Tongestaltung. Benedict Nelson als Don Pizarro und Martin Homrich als Florestan überzeugen vor allem in ihren jeweiligen Arien, während Almas Svilpa als Gefängniswärter mit ganz eigenen Dämonen zu kämpfen hat. Weitere Rollen (bis auf zwei Gefangene mit kleinen Solopartien) gibt es in Fidelio schweigt. nicht.

© Karl und Monika Forster

Am Ende des Abends dürfen sich alle Beteiligten über den begeisterten Applaus des Premierenpublikums freuen, den dieses spannende Werk mehr als verdient hat. Viele Besucher unterhalten sich noch beim Verlassen des Saales über die eindringliche Opernaufführung, die übrigens ohne Pause in knapp zwei Stunden über die Bühne geht. Ein gelungenes Experiment.

Markus Lamers, 15. Mai 2024


Fidelio schweigt.
Dialog-Oper von Charlotte Seither / Ludwig van Beethoven

Musiktheater im Revier, Gelsenkirchen

Uraufführung: 12. Mai 2024

Inszenierung: Hermann Schneider
Musikalische Leitung: Peter Kattermann
Neue Philharmonie Westfalen

Weitere Aufführungen: 17. Mai / 19. Mai / 25. Mai / 30. Mai / 2. Juni